Hallo und herzlich willkommen zur Episode 8 des „Wegs der Stoa“. Ich freue mich, dass Du wieder auf dem Weg der Stoa dabei bist. Heute möchte ich einen Blick auf das Lebensziel (griechisch „telos“) der stoischen Philosophie werfen. Dieses Ziel ist für den Weg der Stoa von fundamentaler Bedeutung, da ein Weg ohne Ziel nirgendwo hinführen würde. Was hat es also auf sich mit diesem Ziel und wie lässt es sich formulieren?
Beginnen wir zunächst mit der Frage, was die Stoiker unter einem Ziel verstehen. Hier finden wir eine gute Beschreibung bei Johannes Stobaios, einem antiken Autor und Sammler von philosophischen Lehrmeinungen aus dem 5. Jahrhundert nach Christus. Er schreibt in seinem zweiten Buch (Eclogae) Folgendes:
„Von den Stoikern wird folgende Definition gegeben: »Ein Ziel ist das, wofür alles auf angemessene Weise getan wird; es selbst aber wird für keinen anderen Zweck getan.« Anders ausgedrückt: »Für das Ziel wird alles andere getan, es selbst aber für nichts anderes.« Und wiederum: »Das Ziel ist das, worauf sich alles, was im Leben auf angemessene Weise getan wird, bezieht, während es selbst sich auf nichts anderes bezieht.« (Stob. Ecl. II p. 46, 5-10)
Das Lebensziel ist im Verständnis der Stoiker also ein Ziel, welches es nur um seiner selbst zu erreichen gilt. Wir streben es nicht wie andere Ziele an, da wir uns durch das Erreichen dieser Ziele, wiederum das leichtere oder bessere Erreichen weiterer Ziele erhoffen. Als ein Beispiel für ein derartiges „Zwischenziel“ könnten wir Reichtum betrachten, da wir oft davon ausgehen, dass uns das Erwerben von Reichtum ein zufriedeneres oder aber erfüllteres Leben ermöglichen würde. In diesem Beispiel wäre der Reichtum nur ein vermittelndes Ziel, um unser eigentliches Ziel, nämlich Zufriedenheit oder aber Erfüllung zu erreichen. Für die Stoiker steht das Lebensziel nun an der Spitze unserer Zielhierarchien und steht damit für sich alleine und zweckfrei. Es erfüllt keinen weiteren Zweck für uns, da alle Zwecke in unserem Leben zur Erreichung dieses Ziels führen. Wie lautet dieses Ziel aber?
Zenon, der Begründer der stoischen Philosophie definierte dieses Ziel in seiner einfachsten Form wie folgt:
„das übereinstimmende Leben“
und meinte damit, dass man ein Leben in Übereinstimmung mit einem einzigen, zusammenklingenden Vernunftprinzip anstreben solle, da man ansonsten in Konflikt leben würde und nachfolgend unglücklich sein müsse. Diesen Zustand hat Seneca in seinem Brief 120 (120.20-22) aus seinen moralischen Briefen sehr treffend beschrieben:
„(20) Das deutlichste Merkmal eines minderwertigen Charakters ist der Wankelmut und ein ewiges Hin und Her zwischen geheuchelten Tugenden und der Neigung zu Lastern.
»Er hatte oft zweihundert Sklaven,
oft aber wieder nur zehn; mit Königen bald und mit Fürsten
prahlte er groß; bald sagt‘ er: ›Mir reicht schon ein Tisch auf drei Füßen,
reines Salz in der Schale und Toga gegen die Kälte,
mag sie auch grobfädig sein.‹ Und gäbest du eine Million
ihm – war er doch sparsam, mit wenig zufrieden – in fünf Tagen
hätt‘ er gar nichts mehr.«
[Horaz, Sat. 1,3,11-17)
(21) Viele Menschen sind so wie dieser von Horatius Flaccus hier beschriebene, niemals der gleiche, ja nicht einmal sich selbst ähnlich; so sehr verirrt er sich in entgegengesetzte Extreme. Habe ich »viele« gesagt? Fast alle sind es. Niemanden gibt es, der nicht täglich seinen Entschluss und seinen Wunsch ändert: Bald will er eine Gemahlin haben, bald eine Geliebte, bald will er herrschen, bald möchte er diensteifriger sein als jeder Sklave, bald spielt er sich auf bis zum Verhasstsein, bald erniedrigt er sich und will noch unbedeutender erscheinen als jene, die wirklich am Boden liegen, heute verschleudert er sein Geld, morgen rafft er es gierig zusammen. (22) Auf diese Weise vor allem entlarvt sich der Unverstand eines Menschen: Bald zeigt er sich so, bald anders und ist, was in meinen Augen am Beschämendsten ist, sich selbst doch untreu. Betrachte es als eine große Sache, [immer] die Rolle eines Menschen zu spielen. Doch vom Weisen abgesehen, spielt niemand nur eine Rolle, wir übrigen zeigen viele verschiedene Gesichter. Bald werden wir Dir anspruchslos und ernst, bald verschwenderisch und eitel erscheinen; immerzu wechseln wir die Maske und setzen uns das Gegenbild der gerade abgelegten auf. Mach es Dir also zur Pflicht, die Haltung, zu der Du Dich durchgerungen hast, bis zum Tod zu bewahren; bring es zuwege, dass man Dir Lob spenden, und wenn das nicht, dass man Dich [wenigstens] wiedererkennen kann. Bei so manchem, den Du erst gestern gesehen hast, könnte man mit Recht sagen »Wer ist das?« So sehr hat er sich verändert. Leb wohl!“ (Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, 120.20-22)
Seneca beschreibt hier den Zustand eines Menschen, den wir alle zu gut kennen und der dadurch gekennzeichnet ist, dass wir unser Leben nach immer wechselnden Prinzipien leben. Eben suchten wir noch die Lust, jetzt den Reichtum, dann wieder die Bescheidenheit und den Rückzug, bis uns dann wieder die Sehnsucht nach Sichtbarkeit oder Ruhm plagt. Wie soll ein Mensch in diesem Zustand glücklich sein und einen inneren Frieden finden? Die Diagnose Zenons scheint mir von daher sehr treffend und die Stoiker zeigten schon in ihren Anfängen, welche gute Beobachter des allgemein Menschlichen sie sind. Folgen wir dieser Analyse Zenons nun aber weiter, so wirft sich uns die Frage auf, nach welchem Prinzip wir unser Leben denn ausrichten sollten? Zenon selbst nannte hier das Prinzip der rationalen Vernunft, welches wir als Menschen als Teil eines vernünftigen Kosmos (von den Stoikern auch „die Allvernunft“ oder „die Allnatur“ genannt) als Potenzial in uns tragen. Dieses Potenzial gilt es nach Zenon zu entwickeln.
Um diese Ergänzung auch im Telos der Stoa klarer aufzuzeigen, erweiterte Zenons Nachfolger Kleanthes die Definition des Telos der Stoa wie folgt (siehe z. B. Diog. Laert. VII 87-89):
„das Leben in Übereinstimmung mit der Natur“.
Hier wollte er darauf hinweisen, dass das von Zenon als Leitprinzip für unser Leben geforderte Prinzip in der Natur zu finden sei, wobei er unter „Natur“ hier die eben schon erwähnte „Allnatur“ bzw. „Allvernunft“ meinte. Ein gutes stoisches Leben besteht also darin, dass wir dieses im Einklang mit dem kosmischen Vernunftprinzip führen. Woraus leiten die Stoiker aber ab, dass der Kosmos, also die Allnatur, mit einer Allvernunft ausgestattet ist und warum ist es erstrebenswert, sein Leben im Einklang mit dieser Allnatur zu führen. Um dies zu verstehen, muss man auf das Bild der Stoiker schauen, welches sie vom Kosmos hatten. Hier hilft uns eine Passage, welche wir bereits aus der Folge über das Schöne in der Stoa kennen, welche wir bei Cicero, in seinem Buch „Über das Wesen der Götter“ finden. Er lässt in dieser Passage einen Stoiker namens Balbus zu Wort kommen. Dieser beschreibt den Kosmos in seinen Ausführungen so:
„Es gibt am Himmel also weder Zufall noch Willkür, noch Irrtum, noch Unzuverlässigkeit, sondern im Gegenteil lauter Ordnung, Wahrheit, klare Berechnung und Beständigkeit; ….“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2. 56)
Balbus betont in dieser Passage die Ordnung des Kosmos. Diese bringt er dann, in einem nachfolgenden Schritt in Verbindung mit einer schöpferischen Kraft, welche im Kosmos waltet:
„Zenon also definiert die Natur als ein schöpferisch wirkendes Feuer, das methodisch vorgeht, um etwas zu erschaffen. Er glaubt nämlich, Hauptmerkmal der Kunst sei es, etwas zu erschaffen und hervorzubringen…..Nach dieser Theorie ist nun die ganze Natur künstlerisch tätig, weil sie gleichsam einen bestimmten Weg und eine Richtung hat, die sie verfolgen muss. (58) Von der Natur des Weltalls selbst, das alles einschließt und umfaßt, sagt derselbe Zenon, sie sei nicht nur schöpferisch tätig, sondern eine vollendete Künstlerin, die sich um den Nutzen und Vorteil aller Geschöpfe kümmert und sorge.“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2. 57-58)
Diese schöpferische Kraft, welche Balbus dann mit der Vorsehung identifiziert, führt dazu, dass der Kosmos durch drei Eigenschaften charakterisiert ist:
„Weil der Weltgeist so beschaffen ist und deshalb mit Recht als Voraussicht oder Vorsehung bezeichnet werden kann – auf griechisch nennt man ihn ja pronoia -, sorgt er vornehmlich dafür und ist vorrangig damit beschäftigt, sicherzustellen, daß das Weltall erstens für seine Fortdauer bestens eingerichtet ist, zweitens, daß ihm nichts fehlt, hauptsächlich aber, daß es sich durch Schönheit und jede Art von Schmuck auszeichnet.“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2.58)
Der Kosmos zeichnet sich also durch eine offensichtliche Ordnung und Schönheit aus, welche auch dafür sorgt, dass alle Geschöpfe des Kosmos gut versorgt seien. Hiermit ist gemeint, dass jedes Geschöpf so ausgestattet ist, dass es im Kosmos alles findet, dass es gut leben kann und dass es alle Fähigkeiten besitzt, um dieses Leben auch zu führen. Der Kosmos stellt im Bild der Stoiker also ein in sich stimmiges, harmonisches und geordnetes Ganzes dar. Aus diesen beobachtbaren Eigenschaften des Kosmos schließen die Stoiker dann weiterhin, dass es sich bei der feurigen gestaltenden Kraft im Kosmos, um eine vernunftsbegabte also rationale Kraft handeln muss, weshalb der Kosmos oder die Allnatur dann von ihnen auch Allvernunft genannt wird. Wenn Zenon und Kleanthes also fordern, dass wir in Übereinstimmung (griechisch – „homologia“) mit der Allvernunft leben sollen, so steht dahinter die Vorstellung, dass wir unser Leben vernünftig, also rational, ordnen und leben sollen. Nur so kann unser Leben dann einen ungestörten und harmonischen Lebensfluss (griechisch „euroia“) aufweisen, welcher von positiven Gefühlen (griechisch „eupathae“) und innerer Harmonie und Stimmigkeit begleitet wird. Diesen Zustand nennen die Stoiker dann auch „eudaimonia“, was oft als Glückseligkeit übersetzt wird, im engeren Sinne aus meiner Sicht aber vielleicht eher als gut (griechisch „eu“) begleitet oder geführt übersetzt werden sollte, im Anschluss an das Bild des inneren Daimon (im Sinne einer inneren Stimme der Vernunft) von Sokrates, der ihm nach eigener Aussage oft den Weg in schwierigen Situationen gewiesen habe.
Im Hinblick auf die Frage, was das anzustrebende Ziel in der Stoa ist, haben wir also als Antwort: „das Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ in den Texten der Stoa gefunden. Worin besteht dieses Leben aber jetzt genau? Hier erscheint eine weitere Ergänzung dieser Telosformulierung durch Zenons Schüler Chrysipp von Bedeutung. Dieser erweiterte die bisherige Formulierung in folgender Form:
„das Leben in Übereinstimmung mit der Natur, in Übereinstimmung mit der Erfahrung von dem Leben, was sich von Natur aus ereignet“,
wobei Chrysipp hierbei unter Natur „sowohl die allgemeine als auch insbesondere die menschliche Natur“ meinte. Chrysipp weist in seiner Erweiterung auf zwei wichtige Punkte hinsichtlich des guten Lebens hin:
1. um in Übereinstimmung mit der Natur leben zu können, erscheint es ein Erfahrungswissen über die Ereignisse in der Natur zu benötigen und
2. dieses Wissen muss sich sowohl auf die Allnatur als auch auf das Wesen des Menschen als Teil der Allnatur beziehen.
Mit diesen Erweiterungen deutet Chrysipp an, dass das glückliche Leben eine bestimmte Form von Wissen über uns als Menschen sowie über den Kosmos als Ganzes benötigt. Mithilfe dieses Wissens ist es dem Menschen dann auch möglich, zwischen naturgemäßen und nicht naturgemäßen Handlungen zu unterscheiden. Bei ersteren unterschieden sie dann noch weiter zwischen den Handlungen, welche nur das Wissen der individuellen Natur des Menschen berücksichtigen, diese nannten sie „kathekonta“ und denen, welche auch das Wissen über die Allnatur zusätzlich berücksichtigen, diese nannten sie „katorthoma“. Nur letztere Handlungen sind aus Sicht der Stoiker mit tugendhaften Handlungen identisch. Erstere können in manchen Kontexten wie tugendhafte Handlungen erscheinen, ihnen fehlt aber das innere Wissen um die Anforderungen der Allnatur. Aus diesem Handlungsverständnis der Stoiker wird auch klar, dass die Tugend, welche von ihnen auch als identisch mit dem höchsten Gut angesehen wurde, in dem Besitz dieses inneren Wissens besteht. Liegt dieses Wissen vor, wie es beim stoischen Weisen der Fall ist, so ist diese Person gleichsam zu tugendhaftem Handeln fähig.
Ähnlich wie das innere Wissen um die naturgemäßen Vorgänge dem Menschen hilft tugendhaft zu handeln, so hilft dieses Wissen auch, um den naturgemäßen Wert von Dingen bzw. Zuständen für den Menschen, also die individuelle Natur, zu erkennen. Dinge oder Zustände mit einem positiven naturgemäßen Wert, wie z. B. Wohnstand oder Ruhm, wurden von den Stoikern daher als „präferiert“ und Dinge mit einem negativen naturgemäßen Wert wie z. B. Krankheit oder Armut wurden als „nicht-präferiert“ bezeichnet. Da diese Dinge ihren Wert für das Leben eines Menschen aber nur aus Sicht der individuellen Natur des Menschen besitzen, ist ihr Wert aus Sicht des Wissens über die Allnatur nicht bedeutsam. Die Stoiker bezeichneten ihren Besitz bzw. Nicht-Besitz daher auch im Hinblick auf das gute Leben als „präferierte“ bzw. „nicht-präferierte Indifferenzien“, da ihr Vorhandensein aus Sicht der Allnatur und damit auch im Hinblick auf die Fähigkeit tugendhaft zu leben, nicht von Bedeutung ist.
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so können wir sagen, dass die Stoa mit Hilfe ihres Verständnisses eines Lebensziels, einen direkten Weg zum guten Leben aufweist, welcher im Kern in einem tugendhaften Leben besteht, welches durch das innere Wissen um die natürlichen Abläufe im Menschen und der Allnatur charakterisiert ist.
Mit diesen Gedanken möchte ich die heutige Episode des Wegs der Stoa abschließen. Doch bevor ich ganz schließe, möchte ich noch einen Hinweis auf eine spannende Veranstaltung geben, welche vom 08.08. bis zum 11.08. dieses Jahres, in Bad Homburg vor der Höhe stattfinden wird. Das Thema der Veranstaltung ist: „Ancient Stoicism and personal growth“. Die Veranstaltung wird von Professor Robert Colter von der University of Wyoming, einem ausgewiesenen Experten der Stoa und Begründer der Idee des Stoic Camps und von mir moderiert werden. Aktuell sind noch Plätze für diese Veranstaltung verfügbar. Sie findet auch in einem besonderen Rahmen statt, da wir in den Räumlichkeiten des restaurierten römischen Castells Saalburg tagen dürfen. Genauere Informationen zu der Veranstaltung hinterlege ich in den Shownotes. Ich würde mich freuen, wenn diese Veranstaltung auf Euer Interesse stoßen würde.
Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“
Shownotes:
Cicero, Über das Wesen der Götter – De naturam deorum, Reclam, 1995
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 2 Bände, Felix Meiner Verlag, 2008
Seneca, Briefe an Lucillius über Ethik, Teil 2, Reclam, 2018.
https://mejditours.com/open-tour/uw-germany/
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