Hallo und herzlich willkommen zur Episode 12 des Wegs der Stoa.

Heute möchte ich mit den Worten Marc Aurels auf den stoischen Umgang mit anderen Menschen schauen. Marc Aurel spricht in seinen Selbstbetrachtungen an vielen Stellen über andere Personen und den Umgang mit Ihnen. Ein Thema, welches für ihn als römischen Kaiser sicherlich von hoher Relevanz war. Ich möchte seine Haltung anhand von vier Zitaten etwas genauer betrachten. Anfangen möchte ich dabei mit der Frage, wie wir auf andere schauen sollten. Hier empfiehlt Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen in Buch 6.48 Folgendes:

„Wenn du dir selber eine Freude machen willst, dann denk an die Vorzüge deiner Mitmenschen: bei dem einen an seine Tatkraft, bei dem anderen an seine Bescheidenheit, bei dem dritten an seine Freigebigkeit, bei einem anderen an anderes.  Denn nichts macht eine solche Freude wie die Abbilder der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen zur Erscheinung kommen und, soweit möglich, alle auf einmal zusammentreffen. Daher muß man sie auch stets im Bewußtsein haben.“.

Was für ein wohlwollender Blick auf die Umwelt und so ganz anders, als dies heute oft anzutreffen ist. Wie häufig finden wir uns in einem Gespräch wieder, in dem alles zur Sprache kommt, nur nicht die Stärken und Tugenden der anderen. Wie viel einfacher ist es doch, zusammen mit anderen über die Schwächen und Untugenden einer anderen Person zu sprechen. Dabei ist der Effekt dieser „Lästerei“ meist kein guter. Wir empfinden doch oft eher ein Gefühl von Scham und verpasster Gelegenheit, wenn wir uns auf diese Sichtweise wieder einmal eingelassen haben. Nicht umsonst kann man es tatsächlich als eine herausfordernde Übung betrachten, wenn man sich einmal vornimmt, einen ganzen Tag, über niemanden zu klagen. Wie viel schwerer ist es dann wohl, wenn man der Empfehlung von Marc Aurel folgen und zumindest einmal einen Tag lang nur Gutes über andere sagen und denken würde. Was würde uns fehlen? Was müssten wir anders machen? Spannenderweise würden wir damit wahrscheinlich nicht in erster Linie der sozialen Adresse anderer einen Dienst erweisen, sondern zuvorderst uns selbst helfen. Marc Aurel sagt uns voraus, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar Freude dabei empfinden werden und es uns danach sogar besser gehen könnte. Die Welt wäre auf einmal voll von Tugenden und beneidenswerten Fähigkeiten, welche andere besitzen und welche uns umgeben. Was für ein Gedanke, sich von Großmut, Freude, Friedfertigkeit und Zugewandtheit umgeben zu wissen, anstatt die Welt voll von Missgunst, Hass, Gier und Egozentrik erfüllt wahrzunehmen. Hierbei geht es nicht darum, dass zweiteres nicht auch in der Welt ist. Es ist aber nicht nur in der Welt und es ist unsere Entscheidung, was wir primär von anderen wahrnehmen wollen. Wir sollten dabei aber auch im Blick behalten, dass es auch unsere Erwartungshaltungen sein können, welche für andere Menschen den Rahmen ihrer Verhaltensmöglichkeiten mitbestimmen.

Was sollten wir aber tun, wenn wir dann doch wieder auf die Schwächen anderer fokussieren und diese Wahrnehmung nicht aus dem Kopf bekommen? Auch hier hat Marc Aurel eine Empfehlung in seinen Selbstbetrachtungen. Dort sagt er in Buch 10.30 Folgendes:

„Wenn du an dem Fehler eines anderen Anstoß nimmst, dann wende dich alsbald zu dir selber und überlege, ob du ähnliche Fehler hast: zum Beispiel, ob du das Geld für ein Gut hältst oder die Lust oder das bißchen Ruhm und dergleichen. Denn wenn du darauf deine Gedanken richtest, wirst du schnell deinen Zorn vergessen, wenn dir dabei einfällt, daß jener unter einem Zwang steht. Denn was soll er machen? Oder, wenn du kannst, nimm den Zwang von ihm.“

Auch hier erweist sich Marc Aurel wieder als echter Menschenfreund. Natürlich wissen wir alle, dass wir selbst fehlbar sind und wir mit unseren Mitmenschen die meisten Schwächen und Laster teilen. Nur zu gerne vergessen wir aber diese Verbundenheit in der Schwäche in konkreten Situationen, in denen wir gerne mit der Lupe auf die Schwächen unserer Mitmenschen schauen. Was rät uns Marc Aurel in diesen Situationen? Schau in den Spiegel und befrage dich selbst. Wie sieht dein Innenleben aus? Wieweit bist du in deiner Arbeit an deinen Vorstellungen, Werten und Leidenschaften? Bis jetzt nicht so weit? Nun, dann nutze dieses Wissen, nutze deine innere Bereitschaft, dir selbst zu verzeihen, um deinem Mitmenschen ebenfalls zu verzeihen und helfe ihnen viel mehr in ihrer Arbeit an sich selbst. Sei mutig und spreche Dinge an und bleibe bei deinem Mitmenschen, wenn dieser versucht, an sich zu arbeiten. Wenn es hierfür für diese Person zu früh ist, dann nutze deine Bereitschaft anzuerkennen, dass ein Weg eben ein Weg ist und dieser manchmal Umwege und Irrwege beinhaltet. Kannst du Rahmenbedingungen für andere verbessern, ihnen Hindernisse oder wie Marc Aurel sagt, Zwänge wegnehmen, was hält dich davon ab? Wie sehr würdest du dich freuen, wenn man dir Zwänge nehmen würde. Wir sind eben nicht nur in der Tugend vereint, sondern, solange wir sie nicht erreicht haben, auch in unseren fehlgehenden Bemühungen.

Was bedeutet dies jetzt aber für Situationen, in denen diese Mitmenschen dich an etwas zu hindern scheinen, was dir als wichtig erscheint? Wie solltest du mit diesem unerwünschten Widerstand umgehen und was bedeutet dies für dein Verhältnis zu diesen Mitmenschen? Auch hier hat Marc Aurel einen Ratschlag in seinen Selbstbetrachtungen. So rät er uns in Buch 11.9:

„Wie dich die Menschen, die dir bei deinem Vorwärtsschreiten auf dem Pfade der rechten Vernunft störend in den Weg treten, vom richtigen Handeln nicht abbringen können, so  sollen sie dir auch nicht das Wohlwollen gegen sie austreiben.  Vielmehr mußt du in beider Hinsicht gleichermaßen auf dich achten: nicht nur an wohlgegründeten Entscheidungen und  Handlungen festhalten, sondern auch an deiner gütigen Gesinnung gegenüber denen, die dich zu hindern suchen oder dir sonst wie Ärgernis geben. Denn auch das ist ein Zeichen von Schwäche, ihnen zu zürnen, ebenso wie es der Verzicht auf dein Tun und ein Erlahmen in deinem Streben wäre, wenn du dich hättest irremachen lassen. Denn beide sind in gleicher Weise fahnenflüchtig: der eine, der sich hat einschüchtern lassen, und der andere, der sich demjenigen hat entfremden lassen, der von Natur ihm verwandt und freund ist.“.

Was rät uns Marc Aurel hier? Zum einen hält er uns dazu an, dass wir bei unseren wohlbegründeten Entscheidungen und Handlungen bleiben sollen. Wir sollen standhaft in den Dingen, welche uns richtig und wichtig erscheinen, bleiben. Den Dingen, welche dem naturgemäßen Handeln entsprechen und auf fester Einsicht gegründet und damit tugendhaft sind. Wenn wir unsicher sind, dann können wir mithilfe stoischer Prinzipien überprüfen, ob das, was wir vorhaben, praktisch-weise, gemäßigt, mutig und gerecht ist. Trägt es dazu bei, dass unser Inneres in Übereinstimmung mit sich und der Umwelt kommt? Cicero spricht hier von dem „decorum“, welches sich in tugendhaftem Handeln zeigt und was wir heute grob mit „stimmig“, „angemessen“ oder „schön“ übersetzen könnten. Würde unsere Handlung also zu größerer innerer Stimmigkeit führen, würden wir mit unserem Umfeld in angemessener Art und Weise umgehen? Würden wir kurz gesprochen dafür sorgen, dass unser Handeln im Zusammenklang mit unserer Umwelt als „schön“ im Sinne von harmonisch angesehen werden könnte?

Zum anderen rät uns Marc Aurel dazu, dass wir in all diesem Tun nicht unser Wohlwollen unseren Mitmenschen gegenüber verlieren. Warum ist dies wichtig? Weil sie eben unsere Mitmenschen sind und wir von Natur aus dazu geschaffen sind, mit ihnen zu kooperieren und gemeinsam unserer Natur entsprechend zu handeln. Wenn uns dies manchmal schwer erscheint, so hilft mir immer wieder ein kleines Gedankenexperiment. Dieses besteht in der Überlegung, dass auf einmal alle Menschen auf dieser Erde verschwinden würden. Gleichzeitig würde man uns dann die Wahl geben, ob wir alle wieder herzaubern wollten, dies allerdings nur unter der Einschränkung, dass sie so wie vorher wären, d. h. mit all ihren Schwächen und Fehlern sowie ihren Stärken und Tugenden. Alternativ könnten wir alleine auf diesem Planeten bleiben. Hier muss dann jeder für sich entscheiden, aber für mich war die Wahl immer klar. Ohne den Rest der Menschheit ist ein Dasein sinnlos und einsam, wie fehlerhaft wir als Spezies auch immer sein mögen.

Ein anderer Gedanke könnte uns aber auch zu folgender Überlegung führen. Wie oft wünschten wir uns, dass andere uns einen Schritt entgegenkommen oder sich uns gegenüber anders verhalten würden. Würden sie es nur tun, dann würden wir uns auch anders verhalten können. Warum halten wir an dieser Stelle in unseren Überlegungen aber an? Warum fragen wir uns nicht, an welcher Stelle wir anderen gegenüber ein besserer Kontext sein könnten? Wo wir anderen durch unseren ersten Schritt ein anderes Verhalten ermöglichen könnten? Fehlt uns da der Mut? Fehlt es uns da an praktischer Weisheit, da wir nicht wissen, wie wir vorgehen wollen? Fehlt es uns an Mäßigung, da wir unsere eigenen Gefühle oder Leidenschaften nicht überwinden wollen oder können oder fehlt es uns an Gerechtigkeit, da wir bisher nicht verstehen, dass das, was uns zukommt, auch den anderen zusteht und wir damit den Schlüssel für ein gemeinsames „Besser“ in den Händen halten. Vielleicht besteht unser inneres Hindernis aber auch in folgendem Problem, welches Marc Aurel ebenfalls in seinen Selbstbetrachtungen in Buch 7.73 bereits thematisiert:

„Wenn du etwas Gutes getan und ein anderer von dir Gutes empfangen hat, was verlangst du da obendrein noch ein Drittes, wie die Toren, daß nämlich auch die Leute sehen, daß du Gutes getan hast, oder schielst gar nach einem Dank für deine Tat?“

Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“

Shownotes:

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (Kröner Verlag):

https://www.kroener-verlag.de/details/product/selbstbetrachtungen/