Heute möchte ich über eine kurze, aber in ihrer Aussageform für viele wahrscheinlich eher problematische oder zumindest verwirrende, Passage von Epiktet sprechen. Es handelt sich um Enchiridion 8, also den achten Paragrafen des Handbuchs von Epiktet. Diese Passage lautet in der von Tino Deckert herausgegebenen modernen Gesamtausgabe des Werks von Epiktet wie folgt:
„Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du es willst, sondern wünsche vielmehr, dass es so geschieht, wie es geschieht und du wirst ein gelingendes Leben haben.“
Was sagt diese Passage aus? Im Kern sagt Epiktet hier, dass wir, was uns auch immer im Leben widerfährt, nicht nur akzeptieren, sondern viel mehr uns sogar wünschen sollen. Wenn uns das gelänge, so Epiktet, werden wir ein „gelingendes Leben“ im Sinne eines Lebens in einem ungestörten Fluss leben. Rein philosophisch betrachtet ist diese Forderung sehr gut nachvollziehbar. Wenn mein freier Wille in seinem Wollen in Übereinstimmung mit dem Ablauf des Kosmos ist, ich mir also alles wünsche, was geschieht, dann werde ich definitionsgemäß ein ungestörtes Leben führen, da alle meine Wünsche eintreffen werden. Wenn man dann noch dazu weiß, dass die Stoiker diesen Zustand auch als Zielzustand ihrer Philosophie definiert haben, nämlich als das Leben in Übereinstimmung, im Griechischen „homologia“ genannt, dann scheinen wir hier ein stimmiges Bild zu haben. Flankiert wird dieses Bild noch durch die stoische Annahme, dass der Kosmos in seinem Wirken durch die kosmische Vernunft, die sogenannte Allvernunft bewegt wird und damit alles, was sich im Kosmos ereignet, vernünftig ist und damit auch gut ist. Wo ist also das Problem? Nun, aus einer Alltagsperspektive betrachtet, liest dieser Satz sich so, dass ich z. B. den Tod eines geliebten Menschen nicht nur hinnehme, sondern mir diesen sogar wünschen sollte. Ein Gedanke, bei dem sich mir alle Haare sträuben und mein erster Gedanke ist, wenn das der Weg der Stoa ist, dann ist das ein Weg, bei dem ich mir nicht sicher wäre, ob ich ihn gehen kann und will. Und jetzt? Schauen wir auf mögliche Auswege aus diesem Dilemma.
- Weg „Der kosmische Ausweg“: Dieser Weg läuft darauf hinaus, dass ich den radikalen Schritt gehe und akzeptiere, dass der Kosmos, wie von den Stoikern vorgeschlagen, von einer Allvernunft geordnet und bewegt wird. Auf diesem Weg muss ich darauf vertrauen, dass Ereignisse, welche sich für mich zunächst als fürchterlich darstellen, in kosmischer Sicht, zu einem Besser führen werden. Wie auch immer dieses Besser zu verstehen ist und auch aussehen könnte. Hier könnte es z. B. auch sein, dass dieses Besser in menschlichen Kategorien nicht zu begreifen ist. Im strikten philosophischen Sinne der Stoiker, ist das auch der einzige Weg, welcher mit der Formulierung „wünschen“ konsistent gegangen werden kann. Würde ich diesen kosmischen Schritt nicht gehen und z. B. annehmen, dass der Kosmos nicht von einer Allvernunft im guten Sinne geordnet und bewegt wird, dann dürfte ich meinen freien Willen und damit mein Wollen und Wünschen nicht in Einklang mit diesem Kosmos bringen dürfen, da dies nicht vernünftig wäre.
- Weg „Die kritische Textanalyse“: Dieser Weg gründet in der Annahme, dass die Textpassage eventuell nicht so zu lesen ist, wie wir sie in der zitierten Passage vorgefunden haben. Und in der Tat finden sich zwar viele Übersetzungen der Art, wie wir sie vorher schon gelesen haben, es findet sich aber auch eine Übersetzung, welche sich anders liest. Diese stammt von Heinrich Schmidts Übersetzung des Handbuchs von Epiktet und lautet wie folgt:
„Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, daß es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.“
Sowie in sehr ähnlicher Form in der Übersetzung von Schultheß und Enk des Handbuchs:
„Verlange nicht, dass alles so kommt, wie du es willst. Begnüge dich mit dem, was geschieht, und dein Leben wird glücklich sein.“
Diese beiden Übersetzungen liegen sehr nahe beieinander und ersetzen das „wünsche vielmehr, dass es so geschieht..“ aus der zuerst betrachteten Übersetzung durch ein „sei zufrieden, dass es so geschieht..“ bzw. „begnüge dich mit dem, was geschieht..“. Wir finden hier eine Art abnehmende Anforderung an uns in der Abfolge dieser drei Übersetzungsvarianten. Wo wir zunächst uns noch „wünschen“ sollen, sollen wir dann einfach nur „zufrieden“ sein und zuletzt uns sogar nur noch damit „begnügen“, dass Dinge so passieren, wie sie passieren. Ich empfinde hier insbesondere die letzte Variante als sehr menschlich, da ich selbst die Anforderung, innere Zufriedenheit bei manchen Ereignissen zu empfinden, als sehr anspruchsvoll und zuletzt sogar unmenschlich empfinde. Aber verlassen wir mit dieser Umdeutung jetzt den Boden der philosophischen Konsistenz? Zwingt uns das Bild der kosmischen Vernunft und der aus ihr sich ergebenden Folge der kosmischen Ereignisse philosophisch nicht dazu, dass wir uns die Ereignisse doch wünschen müssen? Um hier Klarheit zu finden, lohnt es noch andere Stellen in der stoischen Literatur hinzuzunehmen. An erster Stelle denke ich hier wiederum an das Handbuch von Epiktet. Hier sagt er in Enchiridion 2:
„[1] Denke daran, dass das Begehren darauf abzielt, dass man das, was man begehrt, auch erhält, und das Meiden dagegen, dass uns nicht widerfahren soll, was wir ablehnen; und dass sowohl der unglücklich ist, der nicht erhält, was er begehrt, als auch derjenige, der in das gerät, was er ablehnt. Wenn du also von den Dingen, die bei dir liegen, nur das ablehnst, was gegen die Natur ist, so wirst du in nichts geraten, was du ablehnst. Wenn du aber auch Krankheit, Tod oder Armut vermeiden willst, so wirst du unglücklich sein. [2] Gestatte dir also keine Ablehnung gegen Dinge, die von Natur aus nicht in deiner Macht stehen, sondern richte sie nur gegen solche Dinge, die gegen die Natur sind und in deiner Macht stehen. Das Begehren gib vorläufig ganz auf. Denn wenn du etwas begehrst, was nicht in deiner Macht steht, so musst du notwendigerweise unglücklich sein. Und was die Dinge betrifft, die in unserer Macht stehen und die du begehren solltest, von denen weißt du noch nichts. Beschränke dich auf Wollen und Unterlassen, jedoch nicht verbissen, sondern mit Vorbehalt und Gelassenheit.“
Hier klingt Epiktet schon deutlich anders. Ich gewisser Hinsicht gibt uns diese Passage auch einen wichtigen Kontext für unsere vorherige Passage. Sie klärt nämlich noch einmal, in welchem Verhältnis wir zu Dingen stehen sollen, welche nicht in unserer Macht stehen und wozu alle äußeren Ereignisse in unserem Leben zählen. Diesen Ereignissen sollen wir dieser Passage nach kein „Begehren“ und kein „Meiden“ gegenüber empfinden. Dies bedeutet, in den Worten der vorherigen alternativen Übersetzungen von Enchiridion 8 von Schultheß und Enk, dass wir uns damit „begnügen“ sollen, dass im Außen eben das passiert, was passiert. Es geht also um Akzeptanz diesen Ereignissen gegenüber. Akzeptanz aufgrund der Einsicht, dass diese Dinge nicht in unserer Macht stehen. Man könnte diese Haltung auch als Schicksalsergebenheit verstehen, wobei dieser Ergebenheit kein inneres Wollen oder Wünschen zugrunde liegt. Es geht in diesem Weg zum Verständnis von Enchiridion 8 eher darum, dass wir die Einsicht verinnerlichen, dass wir als Menschen solchen Dingen unterworfen sind und wir nicht verhindern können, dass sie uns treffen können, weil wir menschlich und weil wir betreffbar sind. Es geht also um die tiefere Einsicht in das Wesen unserer Natur in einem Kosmos, der so ist, wie er ist. Diese Haltung kommt aus meiner Sicht auch sehr gut in folgendem Zitat von Seneca aus seinem 88. Brief an Lucilius (88.17) zum Ausdruck. Hier sagt er Folgendes:
„Was geschehen wird, weiß ich nicht: was geschehen kann, weiß ich . Davon werde ich nichts durch Bitten abzuwenden suchen, ich erwarte es in vollem Umfang: wenn mir etwas erspart bleibt, bin ich zufrieden . Es täuscht mich die Stunde, wenn sie mich verschont, aber nicht einmal so täuscht sie mich . Denn so wie ich weiß, dass sich alles ereignen kann, so weiß ich auch, dass es nicht in jedem Fall eintreten wird; deshalb erwarte ich das Günstige, auf Schlimmes bin ich vorbereitet .“.
Fassen wir unsere Betrachtungen zu Enchirdion 8 zusammen, so scheint es mir so, dass wir mit guten Argumenten diese Passage folgendermaßen in meinen Worten lesen können:
„Verlange nicht, dass alles so kommt, wie du es Dir wünschen würdest, sondern sei bereit zu akzeptieren, dass alles so geschieht, wie es geschieht und Du wirst in innerem Frieden leben können.“
Bevor ich heute aber zum Ende komme, noch ein Hinweis in eigener Sache. Am 15.10.24 kommt, wie geplant, mein Buch „Der Weg der Stoa in der Führung“ heraus. Hierüber freue ich mich sehr, da mich die Gedanken in diesem Buch schon seit Langem beschäftigt haben. Ihr findet zu dem Buch bereits jetzt auf meiner Blogseite www.weg-der-stoa.de einige Informationen sowie einen ersten Podcast in englischer Sprache zu den Inhalten des Buches, welchen ich mit Barak Keydar im September 2024 aufgenommen habe. Ich werde weiterhin am 28.10.24 im Sokrates Forum von Claudia Lutschewitz über mein Buch sprechen. Wer hier mit dabei sein will, findet alle relevanten Informationen in den Shownotes. Das Socrates Forum ist dabei wie immer kostenlos. Eine erste Besprechung meines Buches wird es zusammen mit Anne Gehrmann, der Autorin des Buches „Die Stoikerin“, in Kürze hier auf dem Weg der Stoa geben. Ich freue mich schon auf Euer Feedback.
Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“
Shownotes:
Epiktet, Gespräche, Fragmente, Handbuch, Moderne Gesamtausgabe von Tino Deckert (Hrsg.), tredition GmbH, 2021.
Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Herausgegeben von Heinrich Schmidt, Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1973.
Seneca, Briefe an Lucilius, Reclam Verlag, 2018.
Epiktet, Handbüchlein der Moral, Herausgegeben von Wolfgang Kraus, Diogenes Verlag, 2022.
Website des Wegs der Stoa:
Sokrates Forum:
https://www.linkedin.com/posts/alexander-zock-1578063_dassokratesforum-dialog-begegnung-activity-7247661837796667394-lkHn?utm_source=share&utm_medium=member_desktop
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