Brad Inwood, ein amerikanischer Philosoph, der an der Yale Universität lehrt, hat ein neues Buch vorgelegt, welches in deutscher Übersetzung „Stoizismus für Eilige“ heißt. Der ursprüngliche Titel des Buches war „Stoicism. A very short introduction“. Der deutsche Titel ist in dieser Hinsicht leider ein kleiner Betriebsunfall, da er das Buch in eine möglicherweise triviale Ecke zu ziehen droht. Man muss dem Finanzbuchverlag aber trotzdem dankbar dafür sein, dass er dieses Buch ins Deutsche hat übertragen lassen, da es ein wirkliches Kleinod ist. Es gibt ja bereits sehr viele Bücher über den Stoizismus, aber das Buchs Inwoods hat mich dahingehend überzeugt, dass es in sehr kompakter Form nicht nur einen sehr soliden Überblick über den Stoizismus gibt, sondern trotz seiner Kürze sehr tief geht. So behandelt Inwood die Entwicklung der stoischen Schule und seiner wesentlichen Akteure, wobei er sich auf die drei römischen Stoiker Seneca der Jüngere, Epiktet und Marc Aurel fokussiert. Diese Fokussierung begründet er mit der Quellenlage zu den Stoikern. Von den griechischen Gründern der Schule sind nämlich leider kaum Texte überliefert worden. Seine Darstellung von Seneca ist dabei besonders interessant, da Seneca als das „ungeliebte Kind“ in der stoischen Tradition gelten kann, da er als Lehrer und Berater des römischen Kaisers Nero, unter dessen schlechten Ruf gelitten hat. Auf der anderen Seite sind seine Werke, die am umfassendsten erhaltenen stoischen Werke. Außerdem waren sie die Ersten, welche neben den Schriften Ciceros, in der Renaissance zur Wiederentdeckung und Wiederbelebung des Stoizismus geführt haben.
Nach dem Blick auf die Geschichte der Schule, gibt Inwood einen spannenden Einblick in die Verbindung des stoischen Denkens mit dem der Schule des Platon, der Akademie, da Zenon, der Gründer der stoischen Schule, schließlich bei Polemon, einem Oberhaupt der Akademie, gelernt hatte. Inwood zeigt hier auch nebenbei eine sehr spannende Verbindung der Stoiker zum Denken des Pythagoras auf, welches sich durch Platon an die Stoiker vererbt hat. Zusätzlich arbeitet Inwood in diesem kurzen Kapitel auch noch heraus, was der Grund des Bruchs Zenons mit der Schule des Platons war. Er findet diesen Grund in der radikalen neuen Metaphysik der Stoiker, welche im kompletten Widerspruch zur Metaphysik der Platoniker stand. Es sind solche speziellen tiefgehenden Einblicke, welche man in anderen Büchern kaum findet, die dieses Buch an vielen Stellen auszeichnen und Beweis dafür sind, über welches Wissen und welchen gedanklichen Überblick Brad Inwood verfügt.
Inwood beschreibt weiterhin in drei Kapiteln die Kernbestandteile der stoischen Philosophie. So finden sich im Buch kurze, aber sehr instruktive Kapitel über die stoische Physik, die Ethik und die Logik. In seinem Kapitel über die stoische Physik berührt er viele Details dieses komplexen Bereichs der stoischen Lebensphilosophie. So behandelt er Themen wie:
- die Prinzipienlehre (das aktive („göttliche“) und das passive Prinzip),
- die Vier-Elemente-Lehre (Feuer, Luft, Wasser, Erde), welche die Stoiker von Empedokles übernahmen und mit ihrer pneuma-Lehre und der Lehre von der strukturlosen Substanz verbanden,
- die Lehre der vier Kategorien von Körpern (Substanz, Eigenschaften, Zustand und Relation),
- die Hierarchie der Natur („scala naturae“) in der die Stoiker die Körper der Natur in aufsteigender Reihenfolge entsprechend ihrer Fertigkeiten: Zusammenhalt, Stoffwechsel und Wachstum, Impulsgenerierung und Bewegung sowie Vernunftfähigkeit ordneten sowie last but not least,
- das stoische Verständnis von Kausalität und der stoische Determinismus. Insbesondere letzterer Punkt erfährt noch einmal eine besondere Betrachtung. So behandelt Inwood sowohl das Problem des freien Willens als auch das des Schlechten in einem von der Vorsehung angetriebenen stoischen Kosmos.
Betrachtet man diese Liste, so liest sie sich wie eine Tour de Force durch diese anspruchsvollen Themen. Es fühlt sich beim Lesen aber tatsächlich nicht so an, da sein Darstellungsstil auch in dichten Passagen durch seine Klarheit eine Leichtigkeit behält. An manchen Stellen wäre ein direkter Hinweis auf eine weiterführende Literatur schön gewesen, aber für seinen Umfang liefert das Buch, wie bereits erwähnt, sehr viel. Auch findet sich im Anhang ein Hinweis auf eine solche Literatur, welche aber leider nicht mit konkreten Stellen im Text verbunden ist.
Im Abschnitt über die stoische Ethik beginnt Inwood mit dem Blick auf das höchste Gut in der Philosophie der Stoiker und identifiziert dies als die Tugend. Die Stoiker betrachteten sie als das alleinige Gut im Leben, welches man um seiner selbst willen wählt. Tugend steht nach Inwood hier für das Erreichen eines vortrefflichen menschlichen Zustands, welcher der vollen Entwicklung der uns von Natur gegebenen Möglichkeiten entspricht. In diesem Zustand gleicht unsere menschliche Rationalität der kosmischen Rationalität, was die Verbindung des Menschen zum Kosmos noch einmal betont. Das Erreichen der Tugendhaftigkeit zeigt sich im Handeln, nach Inwood, im richtigen Gebrauch der vier Kardinaltugenden praktische Weisheit, Mäßigung, Mut und Gerechtigkeit, welche die Stoiker von Platon übernommen haben. Darüber hinaus betont Inwood noch die stoische Forderung nach der Einheit der Tugend, was bedeutet, dass das Praktizieren einer Tugend, das Vorhandensein aller vier Tugenden voraussetzt. Nach den Stoikern braucht jede Tugend die anderen Tugenden. Der tiefere Grund dieser Einheit liegt dabei in der stoischen Vorstellung von der Tugendhaftigkeit als innerer Weisheit. Liegt diese vor, dann liegt sie umfassend vor und nicht nur in Teilen. Im Hinblick auf das menschliche Handeln unterscheiden die Stoiker daher auch das angemessene Handeln („kathekon“), welches sich darin ausdrückt, dass eine Handlung naturgemäß erfolgt sowie das vollkommen angemessene Handeln („katorthomata“). Nur Letzteres entspricht tugendhaftem Handeln, da neben dem naturgemäßen Charakter der Handlung noch die innere Weisheit des Handelnden hinzukommt. Erreicht ein Mensch die innere Weisheit und ist damit in der Lage, vollkommen angemessen zu handeln, so erreicht er damit auch den Zustand der Glückseligkeit („eudaimonia“). Inwood erweitert dann seine Betrachtung noch um die stoische Theorie der Werte. In dieser wird das Gute, welches nur von der Tugend dargestellt wird, von Dingen mit einem Wert unterschieden. Beispiele wären hier Reichtum oder Gesundheit. Mithilfe dieser zusätzlichen Theorie der Werte, können die Stoiker dann derartige Dinge als wertvoll bezeichnen, auch wenn sie hierdurch nur zu präferierten oder nicht präferierten Indifferenzien werden. Der Begriff Indifferenzie bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass diese Dinge keinen moralischen Wert an sich besitzen, d. h., dass Gesundheit oder Reichtum an sich uns nicht tugendhaft machen können. Den Abschluss seiner Betrachtung zur stoischen Ethik bilden noch zwei kurze Erläuterungen der stoischen Telos-Lehre, also der Lehre vom Ziel der stoischen Lebensphilosophie sowie der stoischen Theorie menschlicher Leidenschaften. Beide Theorieelemente behandelt er in kurzer Form, berührt dabei aber wichtige Aspekte, sodass der interessierte Leser für eine vertiefte Lektüre gut vorbereitet ist.
Die stoische Logik behandelt Brad Inwood in zwei Stufen. Hierbei bespricht er zunächst ein in der Antike weit gefasstes Verständnis der Logik, welches wir heute eher als eine Theorie des Geistes bezeichnen würden. Hier stellt Inwood die Stoiker als innovative Denker vor, welche bereits vor zweitausend Jahren wichtige Fragen zu der Art und Weise stellten, wie wir uns das Funktionieren unseres Geistes vorstellen können. Für die Stoiker kam dabei unserer Fähigkeit, Sprache zu verwenden, eine besondere Bedeutung zu. Im Kern ist es auch diese Fähigkeit, welche uns in Verbindung mit unserem Wahrnehmungsapparat von den Tieren unterscheidet und die Grundlage unserer Rationalität legt. Diese erste Reflexion auf das weiter gefasste Verständnis von Logik bietet dann im nachfolgenden Schritt auch die Bühne für das enger gefasste Verständnis von Logik. Dieses Verständnis, welches wir auch heutzutage eher verwenden und das sich mit der Frage des Treffens richtiger Schlüsse bzw. dem Formulieren belastbarer Argumente beschäftigt. Die Stoiker waren auch in diesem Feld der Logik sehr innovativ und entwickelten die Logik Aristoteles deutlich weiter und etablierten nebenbei auch die Grundlagen der modernen Sprachphilosophie bzw. Linguistik. Zum Abschluss dieser Betrachtung zeigt Brad Inwood auch noch die Verbindung von Logik und Physik auf, wodurch noch einmal der ganzheitliche Charakter der stoischen Philosophie deutlich wird.
Das Buch endet mit einem Blick auf die aktuelle Situation in der Community der modernen Stoiker. Inwood sieht hier eine Zweiteilung in die Anhänger des Stoizismus, welche eher der Ethik der Stoiker folgen wollen und die Physik und die Logik als überholt ablehnen. Eine Haltung wie wir sie bereits am Anfang der Schule im Streit zwischen Ariston von Chios (nur Ethik) auf der einen Seite und Kleanthes (Logik, Physik und Ethik sind wichtig) auf der anderen Seite bestand. Da viele Aspekte der stoischen Physik und auch Logik heutzutage nicht mehr sinnvoll vertreten werden können, müsste ein Vertreter der zweiten Position den Stoizismus überarbeiten und aktualisieren. Ein Projekt, welches z. B. von dem amerikanischen Philosophen Larry Becker in seinem Buch „A New Stoicism“ aufgegriffen wurde. Wie wir uns hier auch entscheiden mögen. Brad Inwood rät uns in seinem Buch dazu, dass wir den Stoizismus als Ganzes begreifen müssen, um zu verstehen, wie wir ihn in die Welt und das Denken des 21. Jahrhunderts übertragen können. Sein Plädoyer unterscheidet sich in dieser Hinsicht angenehm von vielen anderen eher auf stoische „Life Hacks“ ausgerichteten Büchern über den Stoizismus. Es ist sehr beeindruckend, wie Inwood diese Mission mithilfe eines solch kompakten Buches gelingt. Hierbei spielt sicherlich auch sein klarer Stil und die Tiefe seines Wissens über die Stoa sowie die hellenistische Zeit als Ganzem eine gewichtige Rolle. Man findet in Inwoods Buch über die Stoa sehr viele Gedanken, welche man ansonsten in einer Vielzahl von anderen Büchern zusammensuchen müsste. Ich wünsche dem Buch daher viele Leser und werde es als eine Art Kompendium verwenden, in dem man immer wieder kurz nachschlagen kann. Ich empfinde es als ein „Kleinod“ in der verfügbaren stoischen Literatur.
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