Hallo,

heute möchte ich Dir zu Beginn dieses Podcast eine kleine Reflexion eines Textes von Marc Aurel, dem römischen Philosophen-Kaiser und Stoiker aus dem 2. Jahrhundert nach Christus an die Hand geben. Es handelt sich um die Passage 2.4 in den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, welche ich gerne als eine Art Motiv an den Anfang dieses Podcasts stellen möchte.

Ich zitiere hier die Übersetzung der Selbstbetrachtungen von Wilhelm Capelle wie sie im Kröner Verlag 2001 erschienen ist:

„Denk daran, wie lange du schon diese Dinge aufschiebst und wie oft du von den Göttern Fristen erhieltest, ohne sie zu benutzen! Du mußt doch endlich einmal begreifen, was das für ein Kosmos ist, von dem du ein Teil bist, und was das für ein Weltenlenker ist, als dessen Ausfluss du ins Dasein tratest! Und daß die Spanne Zeit für dich eng begrenzt ist! Und wenn du sie nicht zur Erleuchtung deiner Seele benutzest, dann ist sie unwiederbringlich dahin, und du bist dahin, denn die Möglichkeit kehrt nie wieder! “ (Marc Aurel, 2. Buch, 4)

Man könnte diese Passage auch in zwei Wörtern zusammenfassen, „Carpe Diem“, die alte lateinische Weisheit, dass wir den Tag so lange pflücken sollten, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben. Wir leben so oft in unserer Welt der Kleinigkeiten und bemerken nicht, wie der Zeitstrom in immer gleicher Weise weiterfließt, während wir unsere großen und wichtigen Projekte mal wieder auf den nächsten Tag schieben, da sie im Heute wieder keinen Platz finden. Die Welt ist voll mit kleinen Dingen und Herausforderungen die uns beschäftigt halten und für alles scheint Platz zu sein, nur nicht für die Frage, ob es genau dies ist, dass wir im Leben machen wollen, ob es genau dies ist, dass uns glücklich machen wird. Und selbst in zunehmendem Alter, in dem wir mehr und mehr merken, dass die Sicherheit des nächsten Jahres, des nächsten Monats, des nächsten Tages nicht mehr ganz so natürlich erscheint, dominiert das Klein-Klein des Alltags. Erst wenn dieser Alltag durch Krisen oder schmerzvolle Ereignisse Risse bekommt, schärft sich in uns die Wahrnehmung dafür, dass Sicherheit oft eine Illusion und uns Zeit nicht unendlich gegeben ist. Dann öffnen wir uns den eher existenziellen Fragen unseres Lebens und stellen uns Fragen nach dem Sinn und der Richtung unseres Lebens. Marc Aurel ermahnt sich selber an dieser Stelle endlich zu begreifen, was das für ein Kosmos sei, dessen Teil er ist. In dieser Ermahnung klingt die alte Formel der Stoa für den Telos, das Ziel, der Stoa, an, wie sie bereits von Zenon, dem Gründer der Stoa, formuliert wurde als: „Das Leben in Übereinstimmung mit der Natur.“ Von Chrysipp, dem 3. Oberhaupt der stoischen Schule wurde diese Formulierung dann noch wie folgt erweitert: „Das Leben entsprechend der eigentümlich menschlichen als auch der allgemeinen Natur.“. Gleichzeitig formuliert Chrysipp dann auch weiter, dass dieses Leben gleich dem tugendhaften Leben sei, welches nach ihm weiterhin darin besteht, dass man entsprechend der erfahrungsgemäßen Kenntnis der Naturvorgänge handelt. In der Praxis der Stoa bedeutet dies dann entsprechend der vier Kardinaltugenden praktische Weisheit, Mäßigung, Mut und Gerechtigkeit zu handeln. Die Einsicht in die eigene Natur und die des Kosmos führt in diesem Gedankengang also zum tugendhaften oder naturgemäßen Leben, welches nach Auffassung der Stoiker gleichzeitig dem Zustand der „Eudaimonie“, also der Glückseligkeit, entspricht.

Marc Aurel zeigt sich in dieser Passage also als echter Stoiker, warum spricht er dann aber auch noch von einem Weltenlenker, als dessen Ausfluss er seine eigene Existenz bzw. sein Dasein begreifen solle? Hier könnte man auf den Gedanken kommen, dass Marc Aurel einen stoischen Gott anspricht, den es zu kennen bzw. zu verstehen gelte und der über das Dasein entscheidet. Eine solche Interpretation liegt auf Grund der personalen Formulierung „des Weltenlenkers“ nahe. Sie wäre aber aus meiner Sicht völlig unstoisch, da die stoische Philosophie zwar häufig in ihren Texten von einem Gott spricht, dieser aber in keinster Weise im Sinne eines personalisierten und transzendenten Gottes interpretiert werden darf, wie man ihn in den theistischen Religionen wie dem Christentum, dem Judentum oder dem Islam findet. Der stoische Weltenlenker ist ganz und gar immanent, d.h. im Kosmos zu finden. In der Literatur findet man daher öfter die Hypothese, dass die Stoiker Pantheisten seien. Der Begriff Pantheismus geht hierbei auf die beiden Wörter „Pan“ (alles) und „theos“ (Gott) zurück. Übersetzt bedeutet Pantheismus also soviel wie „alles ist Gott“ oder „Gott ist in allem“. Ich bin mit dieser Deutung nicht glücklich, da die Referenz auf Gott in unserem Sprachgebrauch für mich zu stark transzendente Konnotationen aufweist, welche der Stoa komplett fremd sind. So geht die Stoa z. B. auch nicht von einem Fortbestand der Seele nach dem Tod oder einer Wiedergeburt aus, wie sich auch im obigen Zitat Marc Aurels zeigt, wenn er davon spricht, dass die Möglichkeit zu einer Erleuchtung der Seele nach dem Tod nie mehr wiederkommt. Nach meinem Verständnis steht der Begriff des Weltenlenkers bzw. Gottes in der Stoa daher eher für das Phänomen der sogenannten Allvernunft, d.h. der Vernunft bzw. der Rationalität des Kosmos, welche man aus Sicht der Stoa auch als die innere Ordnung oder die Gesetze des Kosmos interpretieren könnte, nach denen sich der Kosmos entwickelt. Begriffe wie der Weltenlenker, Gott oder die Götter spiegeln in den Texten der Stoiker aus meiner Sicht eher die Tatsache wieder, dass auch die Stoiker Kinder ihrer Zeit waren und oft eine Sprache verwandten, welche für die Menschen in dieser Zeit anschlussfähig sein musste. Dies zeigt sich z. B. auch in der Tatsache, dass die alten Götter der Ilias im Rahmen des stoischen Denkens nicht als Hirngespinste bezeichnet wurden, sondern eher im Rahmen des Bildes eines sich selbststeuernden Kosmos als natürlich Kräfte und Phänomene umgedeutet wurden. Man merkt spätestens an dieser Stelle, dass dieser Gedankengang in eine sehr umfassende Diskussion führt, welche ich gerne in einem der nächsten Podcasts noch umfassender aufgreifen möchte. Für den Moment wollen wir aber festhalten, dass der Weltlenker in der Passage Marc Aurels auf eben diese Allvernunft verweist, deren Ausfluss unser Dasein und damit auch unsere Natur in dem Sinne ist, dass unsere menschliche Natur vernünftig bzw. rational ist. Wir sind Kinder der Allvernunft und tragen sie in unserer Seele in Form unserer Vernunft in uns als Kern unserer Natur. Wenn Marc Aurel also von einer Erleuchtung der Seele als seiner Aufgabe spricht, dann ist hier gemeint, dass er seine Seele in den Zustand der Vernunft bringt, was im stoischen Bild identisch ist, mit dem Zustand der Tugendhaftigkeit. Die tugendhafte Seele ist im Kern die rationale bzw. vernünftige Seele, welche wiederum identisch ist mit einem besonderen inneren Zustand unserer Psyche, welchen es im Leben zu erreichen gilt.

Wenn wir mit diesem Bild des Menschen im Kosmos jetzt zurückkommen, zu den großen Projekte in unserem Leben, so stellt sich die Frage, wie uns die Stoa mit diesem Denken dabei helfen kann, hier die richtigen Schritte zu gehen. Die Antwort darauf ist, dass wir versuchen sollten tugendhaft zu handeln, wobei dies in der Stoa nicht bedeutet einem äußeren Maßstab zu folgen, sondern viel mehr meint, einen inneren Zustand zu erreichen. Es bedeutet also in unserer Psyche die vier Kardinaltugenden zu entwickeln. Oft fehlt es uns in der Praxis nämlich in solchen Situationen, in denen wir uns fragen, wie wir unseren Lebensprojekten näherkommen können, genau daran, dass wir die Tugenden nicht in uns leben können. Das beginnt damit, dass uns z. B. der Mut fehlt, einer der obigen vier Kardinal-Tugenden der alten Stoa, um uns zu unseren Projekten zu bekennen, um aus unserem inneren Wissen auch ein anderes Handeln und damit zuletzt auch ein anderes Leben zu machen. Damit der Mut aber wirksam werden kann, braucht jedes richtige Handeln in der Stoa nicht nur diese eine Tugend, sondern viel mehr benötigen wir für derartiges Handeln immer alle vier Tugenden. So brauchen wir für unser Handeln neben dem Mut auch die praktische Weisheit, welche uns die richtigen Schritte auf einem gangbaren Weg für unsere Projekte erkennen lässt, dann brauchen wir aber auch die Mäßigung, welche von uns nicht verlangt, alles in einem Schritt zu gehen und uns auch bei Widerständen beharrlich sein lässt. Wir brauchen aber auch die Gerechtigkeit, welche uns daran erinnert, dass auf diesem Weg ein jeder seinen Anteil verdient, was uns die anderen nicht vergessen lässt, uns aber auch daran erinnert, dass auch wir z. B. unseren Platz in einem anderen Leben verdienen. In Verbindung mit den anderen drei Tugenden kann so dann der Mut wirksam werden, da nur er es ist, der uns auf dem von der praktischen Weisheit gesehenen Weg den ersten Schritt machen und uns nicht verzagt sein lässt. „Carpe Diem“ heißt aus Sicht der Stoa also, dass wir in uns dem Weg unserer Natur,
d. h. dem inneren Weg der Tugend folgen, um so auch im Außen unseren Weg gehen zu können und auf diesem Weg den richtigen Dingen in unserem Leben Platz zu geben.

Zum Abschluss für heute noch ein paar Worte zum nächsten Podcast. In diesem wird es um die Geschichte der Stoa gehen. Hier werde ich einen kurzen Überblick über die wesentlichen Akteure der Stoa sowie ihre Erben geben, aber vor allem auch über deren Vorläufer und den Kontext sprechen, in dem die Stoa entstanden ist.

 

Shownotes:

Marc Aurel Selbstbetrachtungen (Kröner Verlag):

https://www.kroener-verlag.de/details/product/selbstbetrachtungen/

Zum Thema Telos der Stoa und den Formulierungen des Zenon sowie Chrysipp siehe Diogenes Laertius: „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ Band 2, Buch 7, Passage 87-89. Ausgabe des Meiner Verlags von 2008 in der Übersetzung von Otto Appelt.

https://meiner.de/leben-und-meinungen-beruhmter-philosophen.html (2015er Ausgabe)

Zum stoischen Gottesbegriff bzw. zur stoischen Theologie seien folgende Quellen empfohlen:

Die Theologie der Stoa, Stefan Dienstbeck, de Gruyter, 2015

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110431551/html?lang=de

Die hellenistischen Philosophen, A. A. Long und D. N. Sedley, J. B. Metzler, 2006