Hallo und herzlich Willkommen zur Episode 4 des Wegs der Stoa.
Heute muss ich Euch nochmals im Hinblick auf die Geschichte der Stoa vertrösten, da die letzten drei Wochen bei mir anders abgelaufen sind, als ich sie geplant hatte. Da das, was im Leben passiert in diesem Podcast aber auch mit Hilfe der Stoa reflektiert werden soll, möchte ich daher heute zunächst eine hierzu passende Passage aus dem Handbuch Epiktets (im Griechischen „Encheiridion“) betrachten.
Doch bevor wir in die entsprechende Passage einsteigen, möchte ich noch einen Hinweis in eigener Sache geben. Parallel zu dieser Episode, ist im Stoiker-Podcast von Ralph Kurz und Markus Rüther eine Folge erschienen, in der ich mit den beiden die Möglichkeit hatte, eine gemeinsame Online-Lesung von Textstellen aus dem Handbuch Epiktets durchzuführen. An dieser Stelle nochmals vielen Dank an Ralph und Markus für diese wirklich schöne eine Stunde gemeinsamen Lesens und Denkens. In dieser Lesung kam auch eine Stelle vor, welche wir auch hier betrachten werden. Wir werden hier aber nicht das Gleiche machen, da es mir an dieser Stelle darauf ankommen wird, diese Textstelle in ihrer philosophischen Dimension und vor allem auch in ihrer Anwendung auf die Praxis zu betrachten, wohingegen wir im Stoiker-Podcast uns eher mit der Auslegung der Passage beschäftigt haben. Wer also nach dieser Episode noch einmal etwas anders in den Text einsteigen möchte, dem sei diese Folge des Stoiker-Podcast empfohlen, die ich auch in den Shownotes verlinkt habe.
Aber steigen wir jetzt in die Arbeit ein. Ich nutze hierfür den Text des Handbuchs aus der modernen Gesamtausgabe von Tino Deckert, welche auf der Übersetzung von Rudolf Mücke basiert und im tredition Verlag erschienen ist. Es handelt sich genauer um Teile der ersten Passage des Handbuchs von Epiktet, deren Inhalt auch unter dem Namen der „Dichotomie der Kontrolle“ bekannt geworden ist.
Encheiridion 1:
„[1] Von allen Dingen stehen die einen in unserer Macht (eph‘ hēmin), die anderen nicht (ouk eph‘ hēmin). In unserer Macht stehen Annahme (hypolēpsis), Antrieb zum Handeln (hormē), Begehren (orexis), Meiden (ekklisis), und mit einem Wort alles, was unser Werk (ergon) ist. Nicht in unserer Macht stehen Leib, Besitz, Ansehen, Stellung, kurz alles, was nicht unser Werk ist. [2] Was in unserer Macht steht, ist von Natur aus frei (physei eleuthera), kann nicht verwehrt oder gehindert werden. Was nicht in unserer Macht steht, ist kraftlos, unfrei, kann verwehrt werden und gehört zu einem anderen (allotrion). [3] Bedenke also, dass du in Hindernisse, Klagen und Unruhe geraten und gegen Gott und Menschen Beschwerde führen wirst, wenn du das seiner Natur nach Sklavische für frei und das anderen Zugehörige für dein Eigentum hältst. Wenn du dagegen nur das, was wirklich dein ist, für dein ansiehst, was aber anderen angehört, für etwas Fremdes, so kann dich niemand jemals zwingen, niemand dich hindern, du wirst gegen niemand Beschwerde führen, niemanden anklagen, wirst nichts widerwillig tun, es wird dir niemand Schaden zufügen, und du wirst keinen Feind haben; denn es wird dir nichts begegnen, was dir schaden kann.“
Diese Passage gehört sicherlich zu den grundlegendsten Passagen der Stoa. Sie etabliert die vorher schon erwähnte „Dichotomie der Kontrolle“ aus der stoischen Philosophie. Diese sagt aus, dass es in unserem Leben zwei Bereiche gibt. Einen, in dem wir Dinge beeinflussen können, nämlich den Bereich unserer Annahmen, Antriebe sowie unseres Begehrens und Meidens, sowie einen anderen, den wir zwar beeinflussen können, den wir aber nicht kontrollieren können, in dem wir also in diesem Sinne unfrei sind. Epiktet empfiehlt uns, dass wir diesen Unterschied verinnerlichen sollen, da wir, wenn wir uns darüber bewusst sind, in welche Kategorie eines unserer Vorhaben fällt, auch eine Klarheit darüber haben, was wir erwarten können. Handelt es sich um ein Vorhaben, welches in den Bereich fällt, in dem wir frei sind, dann können wir davon ausgehen, dass es uns gelingen kann. Fällt es hingegen in den Bereich der äußeren Dinge, in denen wir nicht frei sind, dann kann es uns zwar gelingen, aber wir dürfen nicht enttäuscht oder verzweifelt sein, wenn uns unser Vorhaben nicht gelingen wird, da wir in der Umsetzung des gewählten Vorhabens nicht frei sind. Letzterer Gedanke erscheint hierbei für uns sicherlich leicht nachvollziehbar, da wir alle Vorhaben kennen, welche durch äußere Einflüsse beeinträchtigt wurden. Sei es, dass ich morgens zu spät zu einem Termin gekommen bin, da die Bahn unpünktlich kam und ich Gott und die Welt beschimpft habe, dass dies nun gerade mir, gerade heute passieren muss oder ich geplant hatte, eine Podcast-Folge zu konzipieren und aufzunehmen, dann aber andere Dinge sich in ihrer Dringlichkeit und Wichtigkeit in den Vordergrund geschoben haben und ich auf einmal meine innere Ruhe zu verlieren drohte, da ich doch alle zwei Wochen etwas veröffentlichen wollte. Dank Epiktet, konnte ich so erfahren, dass das Erstellen eines Podcast, noch dazu eines Podcast über die Stoa, ihrem Wesen nach nicht frei sondern in den Worten Epiktets „sklavisch“ ist. Ein Podcast ist eben nur von der Idee her frei, in seiner Umsetzung ist er vielen Dingen unterworfen, welche nicht in meiner Kontrolle liegen.
Wo sind wir dann aber frei? Epiktet sagt uns hier, dass wir in unseren Annahmen, Antrieben sowie unserem Begehren und Meiden frei sind. Das klingt zunächst recht abstrakt und mir scheint, dass, wenn wir diesen Bereich unserer inneren Freiheit klarer verstehen wollen, wir uns etwas genauer mit dem stoischen Bild der menschlichen Psyche auseinandersetzen müssen, womit wir in der letzten Episode ja schon etwas begonnen hatten.
Die Stoiker sahen die Psyche zunächst als eine Fähigkeit, welche wir in Grenzen mit den Tieren teilen. Hierbei sind Kernfunktionen der Psyche die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, d.h. das die Psyche in der Lage ist, die Welt und den eigenen Körper getrennt wahrzunehmen. Diese Wahrnehmungsfähigkeit der Psyche bildet sich darüber ab, dass in der Psyche Vorstellungen (griechisch „phantasiae“) entstehen, welche diese Wahrnehmungen repräsentieren. Auf der Basis dieser Vorstellungen können dann Menschen und Tiere Handlungsimpulse (griechisch „horme“) entwickeln, welche nachfolgend zu körperlichen Handlungen führen. Der Unterschied von Tier und Mensch etabliert sich im Bild der Stoiker jetzt darin, dass Menschen zum einen in der Lage sind, die angesprochenen Vorstellungen sprachlich zu fassen, d.h. dass sich in unserer menschlichen Psyche diese Vorstellungen als sprachliche, sogenannte rationale Vorstellungen, manifestieren, was bei Tieren nicht der Fall ist. Der Mensch besitzt im Bild der Stoiker dann aber auch noch die Fähigkeit, diesen versprachlichten Vorstellungen zustimmen oder sie ablehnen (griechisch „synkatathesis“) zu können, eine Fähigkeit, die den Tieren ebenfalls nicht gegeben ist. Last but not least besitzen wir Menschen auch noch die Fähigkeit, diese Zustimmung bzw. Annahme einer Vorstellung bzw. die Ablehnung einer solchen zu steuern, d. h. wir sind in der Lage, diese letzte Fähigkeit in voller Freiheit auszuüben. Die Stoiker nannten diese Fähigkeit unsere „prohairesis“, welcher wir schon in der letzten Episode dieses Podcast begegnet sind. Die „prohairesis“ (von griechisch „pro“ – vor und „hairesis“ – Wahl, Auswahl, Anschauung) stellt im Bild der Stoiker sozusagen unseren inneren freien Willen dar. Wenn Epiktet also von Dingen spricht, die in unserer Macht liegen, dann spricht er von den Dingen, welche wir mit unserem eigenen freien Willen bestimmen können. Im Kern bedeutet dies, dass unser freier Wille darin besteht, dass wir unseren inneren Vorstellungen zustimmen oder sie ablehnen können. Da unsere innere Zustimmung oder Ablehnung zu einer Vorstellung aber auch direkt mit unseren Handlungsimpulsen verknüpft ist, ist somit unsere „prohairesis“ die Grundlage unserer Handlungen und damit auch identisch mit unserem moralischen Charakter. Die Kernbotschaft der obigen Passage Epiktets besteht also darin, dass er uns darauf hinweist, dass wir in der Gestaltung unseres moralischen Charakters frei sind, auch wenn wir in der Erreichung unserer Ziele in der äußeren Welt nicht frei sind, da wir dort von anderen oder widrigen Umständen gehindert werden können. Diese Einsicht bringt die Stoiker dann auch dazu den Fokus ihrer Philosophie auf die Entwicklung unserer „prohairesis“ zu legen, und zwar in der Hinsicht, dass die über sie vermittelte innere Wahl gegenüber der Akzeptanz unserer Vorstellungen dazu führt, dass wir in tugendhafter Art und Weise Denken und Handeln. Tugendhaftigkeit ist in diesem Bild ein innerer und nicht ein an äußerem Handeln abzulesender Zustand, da Tugendhaftigkeit im Bild der Stoiker mit dem Zustand identisch ist, dass wir in der Lage sind, unseren inneren Umgang mit unseren Vorstellungen so zu gestalten, dass wir im äußeren Leben im Einklang mit unserer eigenen Natur und der Allnatur leben. Dann, so Zenon, leben wir im Zustand der Glückseligkeit (griechisch „Eudaimonia“), welcher folgendermaßen von ihm definiert wird: „Glückseligkeit ist der gute Fluss („euroia“) des Lebens.“. Dies bedeutet nicht, dass wir auf diesem Weg alles bekommen, was wir uns wünschen, es ist viel mehr so, dass wir uns nur noch Dinge wünschen, welche wir auch bekommen können bzw. wir uns beim Wünschen darüber klar sind, dass wir nicht sicher mit dem Erfüllen unserer Wünsche rechnen können. Dann und nur dann kann unser Leben, nach Ansicht der Stoiker, in einem guten Fluss dahinströmen und wir uns innerlich glückselig empfinden.
Doch wie erreichen wir dieses Ziel? Hier rät uns Epiktet im weiteren Verlauf der vorher zitierten Passage noch folgendes:
„[5] Lerne, jedem unangenehmen Gedanken direkt damit zu begegnen, indem du sagst: »Du bist nur eine Vorstellung (phantasia) und nicht die Sache selbst, die du zu sein vorgibst.« Dann prüfe sie nach den Grundregeln, die du kennst; zuerst und vor allem nach der, ob sie zu den Dingen gehört, die in unserer Macht, oder zu denen, die nicht in unserer Macht stehen. Ist sie Letzteres, so halte die Antwort bereit (procheiron): »Es geht mich nichts an.«“
Epiktet rät uns hier also vor allem den Umgang mit unseren Gedanken zu üben. Hier sollte der erste Schritt darin bestehen, dass wir uns klar machen, dass wir immer nur mit unseren Vorstellungen innerlich umgehen und nicht mit den Dingen selbst. Dies bedeutet, dass wir unseren Vorstellungen gegenüber skeptisch sein und ihnen nicht einfach zustimmen sollten. Ein Glas Wein oder eine Chipstüte können uns in unserer inneren Vorstellung z. B. sehr attraktiv vorkommen, nach genauerer Prüfung erscheint uns diese Attraktivität aber nicht mehr als Ausdruck des natürlichen Wertes dieser Dinge, sondern als Ausdruck eines inneren Verlangens, welches ich mit Hilfe meiner „prohairesis“ prüfen und gegebenenfalls verwerfen kann. Im Hinblick auf die Frage, welche Hilfsmittel mir zur Prüfung meiner Vorstellungen zur Verfügung stehen, verweist Epiktet auf Grundregeln, welche man kennen sollte, und nennt dann als ein Beispiel für diese Grundregeln die „Dichotomie der Kontrolle“. Diese würde uns in der Prüfung einer Vorstellung dazu bringen, dass wir prüfen, ob in der Vorstellung ein Handlungsimpuls steckt, welcher uns z. B. dazu auffordern würde, äußeren Dingen nachzugehen, wie z. B. Geld, Ruhm oder Besitz. Wäre dies der Fall, fordert Epiktet uns dazu auf, dass wir eine solche Vorstellung ablehnen sollen mit den Worten: „Es geht mich nichts an.“. Bedeutet dies, dass wir im Äußeren keinerlei Anstrengungen mehr aufwenden dürfen? Dies würde ich klar verneinen. Epiktet will uns mit seiner strikten Aussage nur zu der Einsicht führen, dass wir eine solche Handlung nicht ungeprüft durchführen sollten und wenn wir sie trotz Prüfung als angemessen ansehen, dass wir dann ihr gegenüber eine innere Distanz besitzen sollten, welche sich z. B. darin ausdrückt, dass wir die stoische Zurückhaltungsklausel verwenden und uns sagen, dass wir dieses Projekt zwar versuchen werden, dass uns aber klar ist, dass wir die hiermit verbundenen Ziele nur erreichen werden, wenn das Schicksal es zulassen wird. Eine Einsicht, welche uns nicht desillusionieren sollte, sondern uns eher dazu bringen sollte, dass wir unsere Projekte noch genauer anschauen und akzeptieren, dass wir in der Umsetzung nicht alles in der Hand haben werden und dass, wenn ein Hindernis auftritt, uns dies nicht entmutigt alles fallen lassen sollte, sondern, dass wir uns viel mehr sagen können, dass wir mit Hindernissen gerechnet haben und wir somit nur im Jetzt erfahren, was wir vorher eigentlich auch schon wussten. Epiktet rät uns also darauf zu achten, wie wir Dinge verfolgen, denn die Art und Weise des Umgangs mit äußeren Dingen wird, nach Ansicht der Stoiker, Auskunft über unseren moralischen Charakter geben. Es sind also nicht die Ziele, die wir wählen, welche uns als moralische oder tugendhafte Menschen kenntlich machen, es ist viel mehr unser Umgang mit dem Versuch diese zu erreichen, der nach außen Auskunft über unser Inneres gibt.
In diesem Sinne sage ich heute mit besonderer Klarheit: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“
Shownotes:
#53 Lesen stoischer Literatur – im Gespräch mit Dr. Alexander Zock, Stoiker Podcast, 28.05.2023:
https://podcasts.apple.com/de/podcast/stoiker-podcast/id1580614030?i=1000614754712
Epiktet – Fragmente – Handbuch, moderne Gesamtausgabe von Tino Deckert (Hrsg.), tredition Verlag, 2021
Stoa und Stoiker, griechisch-lateinisch-deutsch, Auswahl vor Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von Rainer Nickel, Artemis und Winkler Verlag, 2008
Guten Morgen Alexander,
ich bin aufgewühlt von deinem Text. Ich fange erst seit einigen Wochen an mich mit den Gedanken der Stoiker zu beschäftigen und stieß heute auf Epiktet und bei weiterer Recherche auf deine Seite und diesen Text hier. Ich mag sehr wie du schreibst.
Ich interessiere mich auch für die Meetup Gruppe, leider habe ich heute keine Zeit.
Weiter so.
Stoische Grüße
Marcus
Danke Marcus, schau gerne bei der Meetup-Gruppe vorbei! VG Alexander