Hallo und herzlich willkommen zur Episode 6 des „Wegs der Stoa“.

Mit dieser Folge melde ich mich aus meiner längeren Pause zurück und freue mich jetzt wieder, mit Dir, liebe Hörerin, auf dem Weg der Stoa weiterzugehen und das Jahr 2024, mit einem „schönen“ Thema zu beginnen. Heute möchte ich über das Verhältnis der Stoa zum Begriff des Schönen sprechen. Der Anlass für dieses Thema ist eine Veranstaltung, welche wir in der Meetup-Gruppe des „Wegs der Stoa“ vor einiger Zeit durchgeführt haben und die sich mit genau diesem Thema beschäftigte. Diese Veranstaltung habe ich gemeinsam mit Evelyn Kremer, einer ausgebildeten Kunsthistorikerin und Kunstkennerin (sie postet regelmäßig auf Instagram unter @artvernarrt über Kunstausstellungen) durchgeführt. Evelyn hat uns zum Einstieg in das Thema einen sehr spannenden Überblick über die Entwicklung der Vorstellung vom Schönen von der Antike bis zur Moderne bzw. Postmoderne gegeben. Hierbei wurde sehr deutlich, welche große Bedeutung die Schönheit und ihre philosophische Behandlung in der Ästhetik, in unserer europäischen Kulturgeschichte besitzt. Zusätzlich wurde aber auch klar, dass das Verhältnis der Kunst, als dem praktisch kreativen Arm der Ästhetik, zum Schönen über die Jahrhunderte immer ambivalenter wurde. Es verwundert daher nicht, dass Umberto Eco neben seinem 2002 erschienenen Buch „Die Geschichte der Schönheit“ in 2007 noch ein Buch unter dem Titel „Die Geschichte der Häßlichkeit“ nachgelegt hat. Heute kann in der Kunst die Abbildung des Schönen daher kaum noch als ihr Kernziel angesehen werden. Die Ästhetik als die Philosophie der Wahrnehmung und Empfindung hat sich in diesem Prozess ebenfalls in ihrem Interesse deutlich geweitet, wodurch das Schöne auch hier nur noch einen Aspekt der Untersuchungen der Wahrnehmungen und Empfindungen von Menschen darstellt.

Doch kommen wir zurück zu der Frage, die ich in diesem Podcast genauer in den Blick nehmen möchte, nämlich, wie sich das Verhältnis der Stoa zum Schönen gestaltete. Die Stoa hat uns zu diesem Thema leider keine umfangreichen Texte hinterlassen und das Thema des Schönen stand lange nicht auf der Agenda der stoisch interessierten Community. Das hat sich in den letzten 1 – 2 Jahren aber deutlich verändert. Hier ist zum einen die umfassende Analyse der Theorie der Schönheit der Stoiker von Aiste Celkyte, einer Post-Doktorandin an der Leiden Universität in den Niederlanden, zu nennen, welche im Jahr 2022 veröffentlicht wurde. Zum anderen fand die Stoicon 2023, also die Jahreskonferenz der „Modern Stoicism“-Bewegung, in diesem Jahr unter dem Titel „Beautiful Stoics“ statt. Es scheint, die Schönheit ist wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit angekommen. Warum aber ist das so? Welchen Beitrag liefert eine Theorie der Schönheit zur stoischen Lebensphilosophie?

Beginnen wir mit der Wirkung von Schönheit. Wie standen die Stoiker zur Wirkung der Schönheit auf den Menschen. Hierzu hat z. B. Epiktet, der bekannteste Stoiker des 2. Jahrhunderts nach Christus, Folgendes gesagt:

„Er macht es gerade wie die, welche sagen, dass es keinen Unterschied zwischen Schönheit (kalos) und Hässlichkeit (aischros) gibt. Die würden dann gewiss einen Thersites und einen Achilleus, eine Helena und die erstbeste Frau mit der gleichen Empfindung anschauen. Auch das ist einfältig, plump und verrät, dass man die unterschiedliche Natur der Dinge nicht kennt, sondern fürchtet, jeder Vorzug, den man wahrnimmt, könnte uns gleich hinreißen und überwinden.“ (Epiktet Diskurse 2.23.32-33)

Die Stoiker waren also nicht blind und gaben auch nicht vor dies zu sein. Epiktet spricht hier deutlich aus, dass Schönheit auf den Menschen eine Wirkung besitzt. Aber nicht nur das, diese Wirkung beschreibt er auch noch als positiv, da er davon spricht, dass die Wahrnehmung der Schönheit, der Wahrnehmung eines Vorzugs entspricht. Wichtig ist hier der Begriff Vorzug, da er deutlich macht, dass es sich bei der Schönheit in diesem Fall nicht um ein echtes Gut im moralischen Sinne handelt, sondern nur um etwas, was anderen Dingen gegenüber den Vorzug erhalten wird. Schönheit, zumindest hier verstanden als äußere Schönheit, welche mit den Augen wahrgenommen werden kann, hätte damit in der stoischen Terminologie den Status einer „präferierten Indifferenzie“. Äußere Schönheit wäre damit etwas, das im Leben zwar präferiert wird, was aber im Hinblick auf das Erreichen des Zustands der Eudaimonia, also der Glückseligkeit, keinen Einfluss hat. Ist das alles, was die Stoiker zur Schönheit zu sagen haben?

Hören wir dazu Marcus Tullius Cicero, der in seinem Buch „Gespräche in Tusculum“ (lateinisch „Tusculanae disputationes“) im vierten Buch, wenn er über die Leidenschaften aus stoischer Perspektive spricht, Folgendes sagt:

„Und wie es beim Körper eine gewisse passende Gestalt der Glieder zusammen mit einer angenehmen Hautfarbe gibt und dies Schönheit genannt wird, so wird auch bei der Seele eine Gleichmäßigkeit und Beständigkeit der Vorstellungen und Urteile, die zusammen mit einer gewissen Festigkeit und Sicherheit der Tugend folgt oder das Wesen der Tugend selbst enthält, Schönheit genannt.“ (Cicero, Tusc. Disp. 4.31)

Cicero führt hier also eine zweite Art der Schönheit ein, die innere Schönheit des Geistes. Gleichzeitig beschreibt er auch Aspekte dieser inneren Schönheit und stellt diese in Analogie zur äußeren Schönheit. Für die äußere Schönheit nennt er eine passende Gestalt und eine angenehme Hautfarbe und für die innere Schönheit eine Gleichmäßigkeit und Beständigkeit der Vorstellungen und Urteile sowie eine mit diesen verbundene Festigkeit und Sicherheit als wichtige Kriterien. Wir werden diesen Kriterienkatalog der Schönheit später noch vertiefen, ich möchte an dieser Stelle aber zunächst einmal auf den Punkt hinweisen, dass nach Cicero, die innere Schönheit in dieser Definition eng mit dem Begriff der Tugend verbunden zu sein scheint. Hieraus folgt aus Sicht der Stoiker offensichtlich, dass die Seele eines Menschen als schön zu betrachten ist, wenn sie einen tugendhaften Zustand aufweist, wie er sich in der Beständigkeit, Festigkeit und Sicherheit der inneren Urteile in der Seele zeigt. Dieser Gedanke findet sich auch bei Diogenes Laertius (D. L.) dem antiken Philosophiehistoriker aus dem 3. Jahrhundert nach Christus. Er schreibt in seinem Buch „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ in Buch 7 über die Ansichten der Stoiker zur Schönheit:

„…Der Arten aber des Schönen gebe es vier: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung und Verständigkeit; denn in diesen fänden die schönen Handlungen ihren vollen Ausdruck. Dementsprechend gebe es auch vier Arten des Häßlichen (sittlich Verwerflichen): Ungerechtigkeit, Feigheit, Maßlosigkeit und Unverstand….“ (D.L. 7.100)

Epiktet, der Stoiker aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, auf den sich Marc Aurel gerne bezog, formulierte einen ähnlichen Gedanken in seinen Diskursen in der Form:

„Jüngling, du suchst das Schöne, und das ist gut. Lass dir also sagen, dass es da wächst, wo die Vernunft (logos) liegt. Suche es da, wo du den Antrieb, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, wo du Begehren und Meiden hast.“ (Epiktet, Diskurse IV.11.26)

Fassen wir kurz zusammen. Die Stoiker unterscheiden also zwei Begriffe des Schönen. Zum einen den Begriff der äußeren Schönheit und zum anderen den Begriff der inneren Schönheit. Dies zeigt sich auch in einer entsprechenden Begriffswahl im Griechischen. Wenn dort von äußerer Schönheit gesprochen wird, finden wir den Begriff „kalos“. Für die innere Schönheit oder auch die moralische Schönheit wird dahingegen typischerweise der Begriff „kalon“ verwendet, welcher auch als edel oder tugendhaftes Handeln übersetzt werden kann. Mit Hilfe dieser Differenzierung ist es dann auch einfacher, die oft von den Stoikern getroffene Aussage zum Verhältnis des Schönen zum Guten zu verstehen, wie wir sie z. B. bei Diogenes Laertius lesen können:

„…daß alles Gute schön sei und daß das Gute mit dem Schönen gleichbedeutend sei, was auf dasselbe hinauskommt. Denn da es gut ist, ist es schön; es ist aber schön, also ist es auch gut.“ (DL 7.100-101)

Würde man die vorherige Differenzierung zwischen der inneren und äußeren Schönheit nicht berücksichtigen, so könnte diese Passage sehr verwirrend sein und hat selbst in der Antike für einige Kritik und Verwirrung gesorgt. Hier wurde z. B. moniert, dass nicht jeder alte weise Philosoph auch unbedingt strahlend schön sei (man denke nur an Sokrates, der zwar als weise, aber auch als außerordentlich hässlich galt). Gleichzeitig wurde auch kritisiert, dass junge schöne Menschen kaum über innere Weisheit verfügten und sie somit nicht Träger des Guten, sprich der Tugend sein könnten. Trennt man die Begriffe aber, dann lösen sich diese Widersprüche auf und wir verstehen, dass äußere Schönheit kein Hinweis auf innere Schönheit und umgekehrt ist.

Warum sprechen die Stoiker dann aber überhaupt davon, dass die Tugend mit einer inneren Schönheit einhergeht, sprich, warum verbinden sie Ethik und Ästhetik in ihrer Philosophie? Die Antwort liegt in der Frage, warum ein Mensch den Zustand der Tugendhaftigkeit überhaupt suchen sollte? Mit Hilfe der vorherigen Verbindung von Schönheit und Tugend ist die Antwort auf diese Frage sehr einfach. Kurz gesprochen handeln wir ethisch, da wir dieses Handeln als schön erleben. Die Stoiker sahen die Schönheit des Guten als ein wichtiges Attribut des Guten an, da sich durch dieses, nach ihrer Ansicht, die Attraktivität des Guten manifestierte. Die Bedeutung dieser Verbindung in der stoischen Philosophie erkennt man auch daran, dass die Stoiker für diese Verbindung an vielen Stellen in ihren Texten Ableitungen formuliert haben. Wir finden eine solche Stelle z. B. bei Plutarch, in der er über die Stoiker spricht, in folgender Form:

„Ja in dem Buch Vom Schönen bedient er sich, zum Beweise dafür nur das Schöne (die Tugend) gut sei, folgenden Schlusses: „Das Gute ist wünschenswerth, das Wünschenswerthe ist gefällig, das Gefällige löblich, das Löbliche aber schön“. Und an einer andern Stelle: „Das Gute ist erfreulich, das Erfreuliche ehrwürdig, das Ehrwürdige schön“.“ (Plutarch, Moralia 1039C-D)

Ich lasse an dieser Stelle einmal offen, ob einen ein solcher Schluss überzeugen kann. Die Tatsache, dass es aber viele Passagen in der stoischen Literatur gibt, in der wir derartige Ableitungen finden, spricht deutlich dafür, dass die Verbindung zwischen dem Guten und dem Schönen für die Stoiker von großer Bedeutung war.

Nach dem wir jetzt über die Funktion und die Arten der Schönheit in der stoischen Philosophie gesprochen haben, wollen wir jetzt noch einen genaueren Blick auf die Aspekte der Schönheit werfen, welche die Stoiker als charakteristisch benannt haben. Schließlich wäre es ja schön, wenn wir wüssten, wie wir Schönheit erkennen können, falls uns dies nicht schon intuitiv gelingt. Hierzu lohnt ein Blick auf das Bild des Kosmos in der stoischen Philosophie. Warum? Ganz einfach, weil das Ziel des stoischen Lebens in einem Leben in Übereinstimmung oder genauer in Übereinstimmung mit der Allnatur und der eigenen Natur besteht, wie schon Zenon, der Gründer der Schule, und ihm nachfolgend Kleanthes und Chrysipp formulierten. Wenn die Tugendhaftigkeit aber den Zustand innerer Schönheit darstellt und dieser Zustand eine Übereinstimmung mit dem Kosmos manifestiert, so muss auch der Kosmos schön sein. Philosophisch lief das Argument bei den Stoikern aber natürlich andersherum, nämlich dahin gehend, dass der Kosmos schön ist und daher die Tugend, als Ausdruck innerer Übereinstimmung mit dem Kosmos, mit innerer Schönheit einhergeht. Schauen wir daher jetzt genauer auf das Bild des Kosmos in der Stoa. Hier finden wir eine erste hilfreiche Aussage wiederum bei Cicero, welcher in seinem Buch „Über das Wesen der Götter“ einen Stoiker namens Balbus zu Wort kommen lässt. Dieser beschreibt den Kosmos in seinen Ausführungen zunächst als geordnet und strukturiert.

„Es gibt am Himmel also weder Zufall noch Willkür, noch Irrtum, noch Unzuverlässigkeit, sondern im Gegenteil lauter Ordnung, Wahrheit, klare Berechnung und Beständigkeit; ….“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2. 56)

Wobei er hier im Besonderen die Ordnung und Regelmäßigkeit der Sternbewegungen im Blick hat. Hier klingen aber bereits einige Aspekte der Tugendhaftigkeit an, welche wir vorher schon festgestellt hatten und welche als wichtige Aspekte der inneren Schönheit angesehen wurden. In einem nachfolgenden Schritt wird diese Ordnung von ihm in Verbindung mit einer schöpferischen Kraft des Kosmos gebracht.

„Zenon also definiert die Natur als ein schöpferisch wirkendes Feuer, das methodisch vorgeht, um etwas zu erschaffen. Er glaubt nämlich, Hauptmerkmal der Kunst sei es, etwas zu erschaffen und hervorzubringen…..Nach dieser Theorie ist nun die ganze Natur künstlerisch tätig, weil sie gleichsam einen bestimmten Weg und eine Richtung hat, die sie verfolgen muss. (58) Von der Natur des Weltalls selbst, das alles einschließt und umfaßt, sagt derselbe Zenon, sie sei nicht nur schöpferisch tätig, sondern eine vollendete Künstlerin, die sich um den Nutzen und Vorteil aller Geschöpfe kümmert und sorge.“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2. 57-58)

Diese schöpferische Kraft, welche Balbus dann mit der Vorsehung identifiziert, führt dann dazu, dass der Kosmos durch drei Eigenschaften charakterisiert ist.

„Weil der Weltgeist so beschaffen ist und deshalb mit Recht als Voraussicht oder Vorsehung bezeichnet werden kann – auf griechisch nennt man ihn ja pronoia -, sorgt er vornehmlich dafür und ist vorrangig damit beschäftigt, sicherzustellen, daß das Weltall erstens für seine Fortdauer bestens eingerichtet ist, zweitens, daß ihm nichts fehlt, hauptsächlich aber, daß es sich durch Schönheit und jede Art von Schmuck auszeichnet.“ (Cicero, Über das Wesen der Götter, 2.58)

Von diesen Eigenschaften ist für unsere Überlegung vor allem die letzte entscheidend, nämlich die Schönheit des Kosmos. Diese folgt also in der stoischen Philosophie aus der als schöpferische Kraft tätigen Vorsehung des Kosmos, welche die Entwicklung des Kosmos so gestaltet, dass sie neben der Fortdauer und inneren Geschlossenheit vor allem auch für die Schönheit des Kosmos sorgt. Was ist aber mit dem Zusatz „und jede Art von Schmuck“ gemeint? Hier weist Aiste Celkyte auf ein Zitat von Chrysipp hin, welches über Plutarch überliefert wurde und in dem er Folgendes über den Kosmos sagt:

„…die Natur aber hat ohne Zweifel ihre Freude an der schönen Manchfaltigkeit.“ (Plutarch zitiert Chrysipp in „Über die Widersprüche der Stoiker“, Moralia 1044D)

Der Begriff Schmuck (im lateinischen Original „ornatus“) verweist hier, nach ihrer Meinung, auf sichtbare und schmückende Vielfalt, welche sich in Form, Farbe und Material ausdrücken kann. Der entsprechende griechische Begriff im vorherigen Zitat von Chrysipp, welcher als „Manchfaltigkeit“ übersetzt wurde, ist „poikilia“, welcher im lateinischen wiederum als „varietas“ übersetzt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „poikilia“ nicht ursprünglich aus der Stoa stammt, sondern aus dem vorherigen griechischen Sprachgebrauch übernommen wurde und typischerweise mit dem Ergebnis einer handwerklichen Kunstarbeit verbunden wird, welche in der Lage ist, eine Vielfalt von Materialien, Formen und Farben zu einem stimmigen und schönen Ganzen zu verbinden. Überträgt man diese Wortbedeutung auf den gestaltenden Kosmos, so wird sofort klar, warum Chrysipp diesen Begriff zur Beschreibung eines Aspektes des schönen Kosmos verwendet. Spannend ist an diesem Begriff auch die Tatsache, dass er eine Qualität beschreibt, welche bei der Integration der einzelnen Bestandteile des Kunstwerks die Individualität der einzelnen Bestandteile erhält, während sie sie in einer harmonischen Art und Weise dynamisch miteinander zu einem Ganzen verbindet. Übertragen auf den Kosmos kann man sagen, dass die kosmische Rationalität über ihre Kreativität in der Lage ist, über den Prozess der Vorsehung, die Qualität der „poikilia“ zu erzeugen.

Ein weiterer Aspekt der Schönheit im stoischen Verständnis neben der „poikilia“ zeigt sich in einem Zitat von Diogenes Laertius. Dieser formuliert in seinem 7. Buch seines Buches „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ wie folgt:

„Schön nennen sie das vollkommene (höchste) Gut, weil ihm alle von der Natur geforderten Zahlenverhältnisse, mit anderen Worten, weil ihm die vollkommene Symmetrie zuteilgeworden ist.“ (DL 7.100)

Die Schönheit besitzt im Bild der Stoa also eine weitere strukturelle Qualität, welche einen eher quantitativen Aspekt der Proportion in einem Objekt beschreibt. Dieser Gedanke wird in einem weiteren Zitat von Chrysipp noch klarer, welches über den griechischen Arzt Galen überliefert wurde, der im 2. Jahrhundert nach Christus in Rom wirkte.  Er spricht in seiner Schrift über Hippokrates und Platon über die Ansichten des Chrysipp, des 3. Leiters der stoischen Schule, über das Schöne, in der folgenden Form:

„Er glaubt, dass die Schönheit nicht in der Proportionalität der Elemente liegt, sondern in der Proportionalität der Teile: von Finger zu Finger und von allen Fingern zur Handfläche und Handgelenk, von diesen zum Unterarm, vom Unterarm zur Schulter und von allem zu allem….“

Chrysipp scheint in dieser Passage das Schöne oder die Schönheit anhand des Beispiels der visuellen Schönheit als Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit der Teile des Körpers zu definieren. Ein schöner Körper ist hierbei also ein Körper, dessen Körperteile in ihrer Größe in einem guten Verhältnis zueinanderstehen. Dieser Begriff der Schönheit wird in der Passage von Chrysipp auch noch von „der Proportionalität der Elemente“ unterschieden, wobei sich dieses Verhältnis auf das antike Verständnis von Gesundheit bezieht, in dem es darum ging, dass die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde im Körper in einem guten Verhältnis zueinanderstehen müssen. Diese Eigenschaft der Proportionalität wurde in der stoischen Philosophie unter dem griechischen Begriff der „symmetria“ beschrieben. Der Begriff der „symmetria“ leitet sich hierbei im Griechischen aus den Bestandteilen συν („zusammen“) und μέτρον(„Maß“) ab und meint so etwas wie gleiches Maß oder Gleichmaß bzw. Ebenmaß. Diese Wortbedeutung dürfte nach der Philosophin Karen Gloy seinen Grund darin haben, dass Symmetrie die Wirkung der Balance, der Ruhe, der Beständigkeit und Stabilität hat, während Symmetriebrüche für Unruhe und Instabilität sorgen. Die Eigenschaft der Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit im Schönen, die im Begriff „symmetria“ zum Ausdruck kommt, erinnert in gewisser Weise auch an das Konzept des Goldenen Schnittes, welcher in der Kunst und der Ästhetik bis heute Verwendung findet. Der Goldene Schnitt entspricht hierbei einer Unterteilung einer Linie in zwei ungleiche Teile, so dass das Verhältnis des größeren Teilstücks zum kleineren Teilstück dem Verhältnis der Gesamtlinie zum größeren Teilstück entspricht.

Bezieht sich der Begriff der „symmetria“ jetzt aber nur auf materielle Dinge und damit auf den äußeren Begriff der Schönheit oder auch auf das Phänomen der inneren Schönheit. Hierzu finden wir in einer bereits vorher verwendeten Passage Ciceros eine hilfreiche Erklärung. In dieser Passage aus seinem Buch „Tusculum Gespräche“ schreibt er Folgendes:

„Und wie es beim Körper eine gewisse passende Gestalt der Glieder zusammen mit einer angenehmen Hautfarbe gibt und dies Schönheit genannt wird, so wird auch bei der Seele eine Gleichmäßigkeit und Beständigkeit der Vorstellungen und Urteile, die zusammen mit einer gewissen Festigkeit und Sicherheit der Tugend folgt oder das Wesen der Tugend selbst enthält, Schönheit genannt.“ (Cicero, Tusc. Disp. 4.31)

Der Begriff der „symmetria“, in dieser Passage als Gleichmäßigkeit interpretiert, ist also ebenfalls auf die Seele als Maß für die Schönheit dieser anzuwenden und bezieht sich hierbei auf das Zusammenspiel der Vorstellungen und Urteilen in einer betreffenden Person. Die schöne Seele besitzt also neben „poikilia“ auch „symmetria“.

Fassen wir unsere bisherigen Überlegungen zusammen, so scheinen sowohl der Begriff der inneren als auch der Begriff der äußeren Schönheit in der Sicht der Stoiker nach unseren bisherigen Überlegungen durch die beiden Aspekte der „poikilia“ (integrierte Vielfalt) und der „symmetria“ (Proportion und Harmonie) beschrieben werden zu können. Schauen wir aber auf ein weiteres Zitat bei Cicero, welches in seinem Buch „Vom plichtgemäßen Handeln“ zu finden ist, so scheint diese Überlegung noch nicht vollständig zu sein. Cicero schreibt an dieser Stelle über die Schönheit nämlich Folgendes:

„Wie nämlich die Schönheit des Körpers durch die passende Zueinanderordnung der Glieder das Auge anspricht und schon dadurch erfreut, daß alle Teile in einer gewissen Anmut zusammenstimmen (decorum), so ruft dieses Schickliche, das im Benehmen zutage tritt, die Zustimmung derjenigen hervor, mit denen man lebt, durch die Ordnung, Beständigkeit und Einhaltung des Maßes in allen Äußerungen und Taten.“ (Cicero, De Officiis 1.98)

Cicero spricht in diesem Zitat eine weitere Eigenschaft der Schönheit im Bild der Stoa an und zwar die, einer passenden Zueinanderordnung oder Zusammenstimmigkeit der Teile eines Ganzen. Dieser Aspekt wird in der Stoa durch den Begriff „to propon“ (im lateinischen bei Cicero „decorum“) beschrieben. Dieser Begriff scheint dabei sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Bedeutung zu besitzen und sich auf das harmonische Zusammenspiel der Teile eines Ganzen in ihrer Wirkung aufeinander zu beziehen. Hierbei geht es jetzt nicht um die Proportionen des Verhältnisses von Teil zu Teil oder Teil zum Ganzen wie unter dem Begriff der „symmetria“, sondern es scheint viel mehr um die Frage zu gehen, wie das Vorhandensein des einen Teils sich auf die Erscheinung des anderen auswirkt und das sowohl in räumlicher (Anordnung) als auch in zeitlicher Hinsicht (Prozess). Es geht also um die Frage, wie die Teile angeordnet werden müssen, damit sie den Eindruck von Schönheit bewirken. Schauen wir auf ein räumliches Beispiel wie einen Einrichtungsgegenstand in einer Wohnung. In diesem Fall würde man dem Gegenstand zuschreiben, dass er „to propon“ sei oder auf Latein „decorum“ besitzt, wenn er sich auf harmonische Art und Weise in die gesamte Einrichtung der Wohnung integrieren würde. Von dieser Bedeutungsebene leitet sich auch unser heute noch in Verwendung befindlicher Begriff Dekor ab, welcher Ausstattungsgegenstände bezeichnet, welche in einer Wohnung zu einer Gesamt-Ästhetik und damit zur Schönheit der Wohnung beitragen sollen.

Betrachten wir jetzt die zeitliche Bedeutung von „to propon“ oder „decorum“. Auf dieser Bedeutungsebene wäre eine wohlgeformte Rede oder ein Text, in der die Sätze und Argumente auf harmonische und stimmige Art und Weise ineinandergreifen und zum Zweck der Rede bzw. des Textes passen, ein gutes Beispiel für diese Ebene. Man könnte diese Art von Stimmigkeit auch als funktionale Stimmigkeit bezeichnen, da die einzelnen Teile des Ganzen, in diesem Fall die Worte oder Sätze einer Rede, ihrer jeweiligen kontextbezogenen Funktion gerecht werden.

Fassen wir zum Schluss noch einmal zusammen, was wir über das Konzept der Schönheit bei den Stoikern sagen können. Zunächst zeigt sich in unseren Überlegungen, dass auch das Konzept der Schönheit tief in das Gesamtkonzept der stoischen Philosophie integriert ist. Mit seiner Nähe zum höchsten Guten in der Stoa, der Tugend, besitzt die Schönheit in der oft als so nüchtern geltenden Philosophie der Stoa einen zentralen Platz. Sie zeigt uns die Richtung auf dem Weg der Stoa, da die Schönheit des Guten uns anzieht und uns tugendhafter werden lassen möchte. Die Stoiker sind sich dabei im Klaren, dass äußere Schönheit zwar eine „präferierte Indifferenzie“ ist, dass sie uns auf dem Weg der Stoa aber nur eine wünschenswerte Begleiterin, aber kein Lotse sein kann. Diese Rolle kann nur die innere Schönheit der Seele übernehmen, die in ihrem Verlangen schön zu werden, sich in immer stärkere Übereinstimmung mit der Schönheit und Vernunft des Kosmos hineinentwickelt. Die Schönheit selbst zeigt sich uns dabei über ihre drei Kerneigenschaften, die Kraft Vielfalt zu einem harmonischen Ganzen zu integrieren („poikilia“ oder „varietas“), die harmonische Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit der einzelnen Teile eines Ganzen zueinander und zum Ganzen („symmetria“) und das stimmige Ineinandergreifen der Teile sowie der Teile mit dem Ganzen („to propon“ oder „decorum“). Die Schönheit in der Welt zeigt uns über das Vorhandensein dieser Eigenschaften, wo wir in der Welt Übereinstimmung („harmonia“) vorfinden können. Umgekehrt können wir über die bewusste Wahrnehmung dieser drei Aspekte des Schönen auch in Kleinigkeiten die Schönheit und Harmonie des Kosmos beobachten. Diesen Blick auf die Welt hat Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen auf wunderbare Art und Weise folgendermaßen beschrieben:

„Man muß auch Dinge solcher Art beachten wie die Tatsache, daß auch die Erscheinungen, die als Nebenfolge von Naturvorgängen auftreten, etwas Anmutiges und Reizvolles haben.  | So zum Beispiel daß, wenn ein Brot gebacken wird, gewisse Teile davon Risse bekommen, und daß diese, die in gewisser Hinsicht im Widerspruch mit dem Vorhaben des Bäckers  stehen, in die Augen fallen und 〈in uns〉 eine eigentümliche Lust erwecken, davon zu essen. | Auch die Feigen pflegen,  wenn sie überreif sind, Risse zu bekommen. | Und bei den  überreifen Oliven gibt eben ihr Zustand, der nahe an Fäulnis  grenzt, der Frucht eine eigentümliche Schönheit. | Auch die  sich neigenden Ähren und die runzlige Stirnhaut des Löwen  und der aus dem Rachen der Eber fließende Schaum und  viele andere Dinge, die, für sich allein betrachtet, weit davon  entfernt sind, schön zu sein, tragen doch, weil sie im Gefolge  von Naturvorgängen auftreten, zum Schmuck 〈der Geschöpfe1 〉 bei und haben etwas Reizvolles; wenn daher jemand das  richtige Gefühl und eine tiefere Einsicht in das Geschehen  des Weltganzen hat, dann wird ihm beinah alles auch von den  Dingen, die infolge einer Nebenwirkung geschehen, den  Eindruck machen, als ob es auf seine besondere Weise zur  Freude am Ganzen beitrüge. | Ein solcher Mann wird auch die offenen Rachen der Raubtiere im wirklichen Leben mit nicht geringerer Lust betrachten als die, die uns die Maler und bildenden Künstler in Nachahmung 〈der Natur〉 darstellen. Mit seinen keuschen Augen wird er auch die Blüte und Reife der Greisin und des Greises zu sehen vermögen und ebenso den sich an Kindern zeigenden Liebreiz. Und vieles der Art, was nicht jedermann auffällt, wird allein dem offenbar, der mit der Allnatur und ihren Schöpfungen wahrhaft vertraut ist.“ (Marc Aurel 3.2)

Schönheit zeigt sich für den aufmerksamen Betrachter überall.

Bevor ich den Podcast für heute abschließe, möchte ich noch kurz einen Blick zurück und einen Blick nach vorne werfen. „Der Weg der Stoa“ hat eine längere Pause hinter sich, für die es eine Vielzahl von Gründen gab. Diese Pause geht mit dieser neuen Folge des „Wegs der Stoa“ aber zu Ende. In 2024 werde ich wieder eine Vielzahl von Texten und Themen für den Weg der Stoa aufbereiten und freue mich jetzt schon, wenn Du liebe Zuhörerin wieder mit dabei bist. Hierbei werden wir unter anderem auch die Geschichte der Stoa weitererzählen und das eine oder andere Buch besprechen, welches zur Stoa erschienen ist. Hierzu möchte ich dann auch gerne passende Gäste auf „Den Weg der Stoa“ einladen. Ich hoffe, dies wird in Summe „Den Weg der Stoa“ auch weiterhin zu einem lohnenden Weg machen.

Damit auch andere ZuhörerInnen auf den Podcast aufmerksam werden können, würde ich mich freuen, wenn Du „Dem Weg der Stoa“, sofern er Dir gefällt, auf den Podcast-Apps eine positive Bewertung geben würdest. So, können auch andere erkennen, dass „Der Weg der Stoa“ ein spannender und lohnender Weg ist.

Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“

Shownotes:

Evelyn Kremer auf Instagram:

Instagram unter @artvernarrt

Aistė Čelyktė, The stoic theory of beauty, Edinburgh University Press, 2022

Cicero, Gespräche in Tusculum, Tusculum disputationes, Reclam, 2018

Cicero, Über das Wesen der Götter – De naturam deorum, Reclam, 1995

Cicero, Vom plichtgemäßen Handeln – De officiis, Reclam, 2007

Epiktet, Gespräche, Fragmente, Handbuch, Hrsg. Tino Deckert, tredition GmbH, 2021

Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 2 Bände, Felix Meiner Verlag, 2008

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Kröner Verlag, 2001

Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, Hanser Verlag, 2002

Umberto Eco, Die Geschichte der Häßlichkeit, Hanser Verlag, 2007