Hallo und herzlich Willkommen zur Episode 3 des Wegs der Stoa. Heute geht es noch nicht mit der Geschichte der Stoa weiter, das werden wir in der nächsten Episode tun. Heute möchte ich zuerst noch einmal eine Passage von Marc Aurel anschauen. Es handelt sich um den ersten Passus seines 3. Buches. An dieser Stelle formuliert Marc Aurel in der Übersetzung von Wilhelm Capelle Folgendes:

„Nicht nur das muß man bedenken, daß mit jedem Tage das Leben verrinnt und ein immer kleinerer Teil von ihm übrigbleibt, sondern auch darüber muß man nachdenken, daß es, für den Fall, daß jemand länger leben sollte, doch unsicher ist, ob seine Denkkraft auch in Zukunft die gleiche bleiben und ausreichen wird zum Begreifen der Dinge und zu der Betrachtung, die auf die Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge gerichtet ist. Denn wenn jemand anfängt, allmählich geistesschwach zu werden, so wird doch seine Atmung, Verdauung, Vorstellungskraft und sein Triebleben und anderes der Art nicht nachlassen. Dagegen erlischt vor der Zeit seine Fähigkeit, über die eigene Person zu verfügen, die Forderungen der Pflicht scharf zu erkennen und die in seinen Gesichtskreis tretenden Dinge kritisch zu durchdenken und gerade darüber sich klar zu werden, ob es schon Zeit ist, aus dem Leben zu scheiden, und über Dinge ähnlicher Art, die durchaus eines geübten Nachdenkens bedürfen. Man muß sich daher beeilen, nicht nur deshalb, weil man jedesmal dem Tode näherkommt, sondern auch deshalb, weil die Fähigkeit, die Dinge zu begreifen und zu verstehen, schon vor der Zeit aufhört.“

Diese Passage besitzt für mich große Aktualität, da das von Marc Aurel angesprochene Thema der Demenz in unserer alternden Gesellschaft sicherlich zu „dem Thema“ werden wird, wenn „es“ es nicht schon geworden ist. Eine weiterhin steigende Lebenserwartung wird dazu führen, dass wir in unserer alternden Gesellschaft mehr und mehr mit dem Phänomen konfrontiert sein werden, dass einer tolerablen körperlichen Gesundheit eine schwierige und eingeschränkte geistige Verfasstheit gegenübersteht. Die Tatsache, dass dieses Thema aber bereits für den römischen Kaiser des 2. Jahrhunderts nach Christus ein Thema war, ist allerdings verblüffend, da die typische Lebenserwartung zu dieser Zeit durch Krankheit, Kriege und Unfälle deutlich unter unserer heutigen lag. Dies bedeutete zwar nicht, dass es nicht auch zur Zeit des Kaisers Menschen gab, welche ein hohes Alter erreichten, nur ist deren Anzahl wahrscheinlich deutlich geringer gewesen als heute. Das Phänomen der Altersdemenz dürfte daher noch nicht in so großer Zahl beobachtbar gewesen sein. Warum spricht er es dann aber in dieser Passage an? Ich denke, dass sich hier eine besondere Sensibilität des Stoikers Marc Aurel gegenüber diesem Thema zeigt, welche neben seiner sicherlich ausgeprägten persönlichen Sensibilität insbesondere auch in seiner stoischen Haltung begründet sein dürfte. Warum? Nun, die Stoiker betrachteten die Fähigkeit des rationalen Denkens als den Kern der menschlichen Persönlichkeit. Für sie ist diese Fähigkeit die Grundlage des Umgangs mit Welt. Der Mensch unterscheidet sich dabei aus Sicht der Stoiker vom Tier dadurch, dass er die in ihm durch Wahrnehmung entstehenden Vorstellungen versprachlichen und sie somit einer genauen analytischen Prüfung unterziehen kann. Nicht umsonst war die Logik, neben der Physik und der Ethik eine der drei philosophischen Grunddisziplinen der Stoiker, wobei die Logik als die Wissenschaft der Sprache, des Sprachgebrauchs und der richtigen Schlüsse verstanden wurde. Der Mensch gestaltet das Verhältnis zu seiner Umwelt und zu sich selbst also durch Sprache und Sprachanalyse und erlangt durch diese spezielle Fähigkeit eine innere Unabhängigkeit von der Welt. Diese Fähigkeit des Menschen betrachteten die Stoiker als Quelle des freien Willens des Menschen, da unser innerer Umgang mit den Vorstellungen von der Welt in uns einen Raum absoluter innerer Freiheit etabliert, in welchen von außen nicht eingegriffen werden kann. Die Stoiker nannten diese Fähigkeit in der Folge von Aristoteles „prohairesis“ (von „pro“ – vor und „hairesis“ – Wahl, Auswahl, Anschauung), was so viel wie bewusste Entscheidung oder Auswahl bedeutet, wobei damit gemeint ist, dass wir über die „prohairesis“ auswählen, welchen Vorstellungen wir zustimmen wollen und welchen nicht. Die Gründe für diese Auswahl manifestieren dabei unsere inneren Glaubenssätze, Überzeugungen und unser Wissen. Da in den durch unsere „prohairesis“ gewählten Entscheidungen auch die Grundlage unseres Handelns liegt, ist diese Fähigkeit für uns Menschen die Voraussetzung für tugendhaftes Handeln. Das tugendhafte Handeln fassen die Stoiker hierbei als ein Handeln, welches aus einem inneren Zustand widerspruchsfreien Wissens im Einklang mit dem Wesen der Natur erfolgt. Ein Zustand also, in dem wir über unsere „prohairesis“ gelernt haben, unser Leben im Einklang mit der Natur, dem obersten Ziel (griechisch „Telos“) der Stoa, zu vollziehen. Die „prohairesis“ oder in den Worten Marc Aurels, die Denkkraft des Menschen ist es daher auch, welche uns es ermöglicht, die Dinge zu begreifen und unsere Betrachtung auf die Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge zu richten.

Was passiert jetzt aber, wenn wir diese zentrale Fähigkeit verlieren? Marc Aurel formuliert hier den Gedanken, dass wir dann nicht mehr über unsere eigene Person verfügen können. Wir verlieren also unsere Autonomie und können nachfolgend auch nicht mehr unseren Pflichten nachkommen, da wir sie nicht mehr scharf erkennen und auch nicht mehr kritisch durchdenken können. Mit dem Begriff der Pflichten (hier griechisch „kathekonta“) sind hierbei aber nicht Dinge wie die preußischen Sekundär-Tugenden wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit etc. gemeint. Der Begriff der „kathekonta“ bezeichnet in der stoischen Philosophie eher die Dinge, welche naturgemäß sind. Dies kann bedeuten, dass wir uns ernähren müssen, da dies auf biologischer Ebene unserer Natur gemäßes Handeln darstellt. Es kann aber auch bedeuten, dass ich im sozialen Gefüge meinen Rollenverpflichtungen z. B. als Vater, Partner oder Freund nachkomme, da es meiner Natur als Mensch gemäß ist, in sozialen Verpflichtungen zu leben. Last but not least kann hiermit aber auch gemeint sein, dass ich rational handle, um meiner rationalen menschlichen Natur nachzukommen. Der Verlust meiner Denkkraft bedeutet für den Stoiker also, dass er auf Grund des Verlustes seiner „prohairesis“ nachfolgend auch seine Fähigkeit zum pflichtgemäßen oder auch naturgemäßen Handeln verliert, was sich, wie wir eben gesehen haben, in allen Aspekten meines Daseins auswirkt. Für die Stoiker gibt es aber noch einen Verlust. Aus ihrer Sicht verliere ich durch die Fähigkeit der „prohairesis“ auch die Fähigkeit des rationalen und verlässlichen Denkens, welches aus Sicht der Stoiker die Basis für die Erlangung der Tugendhaftigkeit ist. Ich verliere mit der „prohairesis“ aus Sicht der Stoiker also auch meine Tugendhaftigkeit, welche für den Stoiker das höchste Gut darstellt. Mit ihr verliert der stoische Mensch nicht nur seine Glückseligkeit (griechisch „Eudaimonia“ was ich gerne auch als „innerlich gut begleitet sein“ übersetze) und seine Seelenruhe („griechisch „ataraxia“) sondern auch seine Fähigkeit seiner Umwelt gerecht zu werden, einen Umstand, den Marc Aurel als Unfähigkeit zur Erfüllung seiner Pflichten beschreibt und den wir vorher bereits genauer betrachtet haben.

Verbunden mit diesem Verlust spricht Marc Aurel dann aber auch noch den Verlust der Fähigkeit an, sich darüber klar zu werden, ob es schon Zeit ist, aus dem Leben zu scheiden. Hier spricht Marc Aurel also den frei gewählten frühzeitigen Tod als für ihn wichtige Möglichkeit an. Aus Sicht der Stoiker ein immer wiederkehrendes Motiv, welches die Stoiker in ihren Texten immer wieder über das Bild der immer offenstehenden Tür ansprechen. Warum aber ist für die Stoiker dieses Bild und die hiermit verbundene Entscheidungsfähigkeit von so großer Bedeutung? Die Antwort liegt wie vorher schon angesprochen in der Bedeutung der einzigartigen Fähigkeit der „prohairesis“ für den stoisch denken Menschen. In der „prohairesis“ liegt aus Sicht der Stoiker der Schlüssel für ein glückliches und autonomes Leben und das Verschwinden der „prohairesis“ bedeutet im Denken der Stoiker den Verlust dieses Glücks sowie der damit verbundenen personalen Autonomie. Im Denken der Stoiker ist dieser Befund ausreichend, um über den selbstgewählten Freitod zu sprechen und ihn als konsequente Option an das Ende ihres Lebens zu stellen.

An dieser Stelle ist es glaube ich wichtig, einmal darüber zu sprechen, ob die Stoiker mit diesem Denken eine Wertung über menschliches Leben aussprechen, da die obigen Überlegungen sicherlich in Teilen so gelesen werden könnten. Hier würde ich aber widersprechen, da ich die Aussagen Marc Aurels und damit verbunden auch der Stoiker als höchst persönliche Aussagen lese. Die obige Passage hat Marc Aurel z. B. nur für sich selbst dokumentiert, da sie seinen Selbstbetrachtungen entstammen, welche er als Tagebuch verfasst hat, welches sicherlich nicht veröffentlicht werden sollte. Darüber hinaus sind aber auch andere Passagen in der stoischen Literatur, welche ähnliche Überlegungen anstellen nicht so zu lesen, dass hiermit ein Unterschied zwischen wertvollem und nicht so wertvollem Leben aufgespannt wird. Vielmehr scheint es den Stoikern aus meiner Sicht darum zu gehen, dass jeder von uns für sich zu einer Zeit über das Ende seines Lebens nachdenken sollte, wenn wir selbst noch die Weichen für den weiteren Verlauf stellen können. Wenn wir dies nicht tun, dann werden wir diese Weichen später nicht mehr stellen können und Gefahr laufen, dass wir ein Leben führen werden, welche wir uns weder ausgesucht hätten noch hätten leben wollen. Welchen Schluss wir aber aus dieser Einsicht ziehen, ist unsere höchst persönliche Entscheidung, in die auch niemand von außen einwirken sollte. Die Einsicht der Stoiker, die letztlich auch Marc Aurel in seiner Passage aus meiner Sicht sich selber vor Augen halten will, ist die Tatsache, dass wir ein Leben leben, in dem wir nicht wissen, ob und wann uns eine Demenz treffen wird und wenn dies der Fall ist, ob sie uns in Frieden ein paar letzte Jahre schenken wird oder ob wir verfolgt von inneren Dämonen und überfordert von unserer Umwelt, unsere letzten Monate und Jahre fremdbestimmt und ängstlich verbringen müssen. Die Stoiker erinnern uns an dieser Stelle über Marc Aurel daran, dass es unsere Entscheidung ist, wie wir mit dieser offenen Zukunft umgehen wollen und erinnern uns zusätzlich daran, dass die Tür immer offensteht.

Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“

Shownotes:

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (Kröner Verlag):

https://www.kroener-verlag.de/details/product/selbstbetrachtungen/

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen – Griechisch -Deutsch  (Tusculum Verlag)

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783050092416/html?lang=de