Hallo und herzlich Willkommen zur Episode 5 des Wegs der Stoa.

Heute noch einmal eine Textinterpretation, da mein Blick auf die Geschichte der Stoa spannende Einsichten zu Tage gefördert hat, welchen ich noch etwas mehr Zeit geben möchte. Ich habe für die heutige Episode noch einmal eine Passage von Marc Aurel ausgewählt, da diese einige spannende Anmerkungen zum Thema „Fehltritte der Seele bzw. der Psyche“ anspricht. Doch hören wir erst einmal hinein in die entsprechende Passage, welche sich im 2. Buch der Selbstbetrachtungen befindet. Es handelt sich um die Passage 2.16. Diese liest sich in der uns schon bekannten Übersetzung von Wilhelm Capelle im Kröners Verlag wie folgt:

„Die Seele des Menschen mißhandelt sich selber, vor allem dann, wenn sie ein Geschwür, sozusagen ein Auswuchs des Kosmos wird, soweit dies an ihr liegt. Denn sich über irgend etwas ärgern, was geschieht, ist ein Abfall von der Natur, in deren Bereich die Naturen aller anderen Wesen enthalten sind. Dann aber, wenn sie sich von einem Menschen abkehrt oder ihm gar feindlich entgegentritt, um ihm zu schaden, wie es die Seelen der Zornigen tun. Drittens mißhandelt sie sich, wenn sie der Lust oder dem Schmerz erliegt. Viertens, wenn sie heuchelt und voll Verstellung und Falschheit etwas tut oder sagt. Fünftens, wenn sie eine ihrer Handlungen und Entschlüsse ohne ein 〈bestimmtes〉 Ziel unternimmt und planlos und ohne Folgerichtigkeit etwas tut, während doch auch unsere kleinsten Handlungen im Hinblick auf den Endzweck geschehen sollten. Endzweck der vernünftigen Wesen aber ist es, der Vernunft und Satzung des ältesten Staates* zu folgen.“

Was präsentiert uns Marc Aurel in dieser Passage? Er spricht von fünf Fehltritten der Seele bzw. der Psyche des Menschen, wobei diese alle gemein haben, dass sie mit einer Absonderung der Seele oder der Psyche vom Kosmos zu tun haben. Schauen wir uns aber die fünf Fehltritte zunächst einmal genauer an. Es handelt sich um die folgenden:

  1. Ärger,
  2. Zorn,
  3. Lust oder Schmerz,
  4. Lüge und Täuschung,
  5. Ziellosigkeit.

Diese Aufzählung erscheint was die ersten vier Punkte angeht auf den ersten Blick nicht unbedingt bemerkenswert, da sie Aspekte unseres psychischen Erlebens beinhaltet, welche uns sehr geläufig sind wie z. B. Ärger, Zorn, Schmerz sowie auch Lüge oder Täuschung und welche wir auch in unserem Alltagsverständnis problematisch erleben. Was aber eher verwundert, ist der letzte Punkt, die Ziellosigkeit. Zwar würden wir auch heute sicherlich oft kritisch auf Menschen schauen, welche plan- und ziellos durch ihr Leben gleiten, wobei wir hier aber sicherlich eher mit einem großzügigen Auge darauf schauen würden und manche eine Ziellosigkeit sogar als Ausdruck einer auf den Moment gerichteten Haltung interpretieren würden. Gleiches dürfte für das Thema Lust gelten, da unsere stark hedonistisch geprägte Alltagskultur die Lust doch eher positiv besetzt, anstatt sie als Fehltritt der Seele zu betrachten. Es scheint daher wichtig, dass wir etwas genauer auf diese vermeintlichen Fehltritte der Seele aus Sicht des stoischen Denkens schauen. Dies wollen wir im Folgenden für die einzelnen Fehltritte genauer tun.

Der Ärger: Der Ärger wird von Marc Aurel als „Abfall von der Natur“ bezeichnet. Wie kann man das verstehen? In der Philosophie der Stoa lässt sich diese Aussage so interpretieren, dass man das, was einem tagtäglich widerfährt, als Ausdruck der Vernunft des Kosmos betrachtet, da die Stoiker den Kosmos als Ganzes, als vernünftiges Lebewesen betrachteten. Die inneren Vorgänge dieses vernünftigen Lebewesens, welche unseren Alltag beeinflussen und uns vermeintlich in unserem eigenen Leben als förderlich oder hinderlich erscheinen, sind damit aus Sicht der Stoa, in ihrer grundsätzlichen Dynamik zu bejahen und zu begrüßen. Wenn ich also einem Ereignis mit innerlichem Ärger entgegentrete, dann bedeutet dies, dass ich diese kosmische Perspektive vergessen habe und mich damit in meinem Denken und Erleben vom Kosmos situativ trenne und absondere. Dieser Gedanke erscheint zunächst sehr harsch und je nach dem, welche Ereignisse man sich vor Augen hält auch fast unmenschlich. Grundsätzlich kann uns dieser Gedanke aber dazu aufrufen, dass wir den von uns empfundenen Ärger z. B. einmal dahingehend überprüfen, welcher situative Glaubenssatz durch unseren Ärger zum Ausdruck kommt. Hier kann z. B. eine volle Autobahn und ein damit verbundener Stau, uns auf dem Weg zu einem wichtigen Termin sehr ärgerlich machen. Warum sind wir dann aber ärgerlich? Vielleicht weil wir glauben, dass wir ein Anrecht auf eine freie Fahrt haben bzw. wir mit der Tatsache hadern, dass gerade uns das heute morgen treffen musste? In beiden Fällen führt die Frage nach der Angemessenheit dieser Überlegungen sehr schnell zu dem Punkt, dass wir eher kleinlaut zugeben müssen, dass diese inneren Wünsche, Ansprüche oder Glaubenssätze keine haltbare Grundlage besitzen. Warum ärgern wir uns dann aber? Marc Aurel scheint uns hier zusammen mit den Stoikern die Antwort geben zu wollen, dass wir uns ärgern, weil wir uns vom Kosmos und damit auch von der Vernunft des Kosmos absondern. Hierdurch kommen wir dann z. B. zu unangemessenen Forderungen oder Ansichten, welche aber dadurch an der Realität des Alltags scheitern müssen, da sie eben nicht auf Einsichten beruhen, welche mit der Natur des Kosmos übereinstimmen. In diesem Verständnis unseres Ärgers zeigt sich im tieferen Sinne auch die von den Stoikern entwickelte Theorie menschlicher Emotionen. Diese besagt nämlich, dass unsere kognitiven Haltungen unsere Emotionen und Gefühle steuern. Die Stoiker glauben hierbei nicht, dass unsere Emotionen nicht auch körperliche Ursachen haben, sie gehen aber davon aus, dass wir diese körperlichen Ursachen zumindest in Teilen durch Reflexion und Änderung unserer Gedanken, Haltung und Glaubenssätze beeinflussen können. Ein Gedanke, welcher 2000 Jahre später in der kognitiven Verhaltenstherapie wieder aufgegriffen wurde und mittlerweile auch empirisch belegt scheint.

Der Zorn:  Den Zorn bezeichnet Marc Aurel als „Abkehr von den Menschen“. Wie können wir diesen Gedanken im Bild der Stoiker verstehen? Die uns umgebenden Menschen sind, wenn wir unserer vorherigen Argumentation zum Ärger folgen, natürlich auch Teil des Kosmos. Eine Abkehr von ihnen ist damit ebenso eine Abkehr vom Kosmos und seiner Vernunft. Wenn wir einem anderen Menschen feindlich oder aber zornig begegnen, so ist es im Bild der Stoiker so, als würden wir dem Kosmos feindlich und zornig begegnen, eine Haltung, welche angesichts der Tatsache, dass der Kosmos bzw. die Natur in ihrem Wirken im Bild der Stoiker grundsätzlich gut ist, schwer zu verargumentieren ist. Wie steht es jetzt aber um das Argument, dass ein Mensch, welcher sich vom Kosmos abgesondert hat und dadurch z. B. Böses unternimmt, auch Teil des Kosmos ist und damit dann auch keinen Zorn erfahren dürfte? Hier müssen wir differenzieren, denn dieser Mensch ist zum einen, unabhängig von seinem Verhalten, als Teil des Kosmos zu betrachten, zum anderen aber, durch sein Verhalten sozusagen eine „Insel der Irrationalität“ im Kosmos. Was bedeutet dies aber? Nun, zum einen bedeutet es, dass wir einsehen müssen, dass der Kosmos so gebaut ist, dass er trotz seiner Vernünftigkeit Inseln der Irrationalität beinhalten kann. Zum anderen bedeutet es aber auch, dass wir diese „Inseln der Irrationalität“ nicht als Ausdruck der Vernunft des Kosmos interpretieren dürfen. Wie kann dies aber gleichzeitig gedacht werden. Ich denke, der Schlüssel ist an dieser Stelle das stoische Konzept des freien Willens. Der Mensch besitzt im Bild der Stoiker trotz seiner grundsätzlichen Eingebundenheit in den Kosmos einen freien Willen und kann hierdurch auch situativ in seiner Seele von der Vernunft des Kosmos abweichen. Er besitzt aber auch die Möglichkeit, diese Abweichung zu erkennen und zu korrigieren, was im Kern dem Weg des stoischen Praktikers entspricht, bis er die innere Entwicklung so weit vorangetrieben hat, dass er den Status des stoischen Weisen erreicht hat. Letzterer wäre dann dadurch charakterisiert, dass sich die Seele des stoischen Weisen, in keiner Situation mehr vom Kosmos absondern würde. So weit, so gut, was bedeutet dies aber nun für unseren Zorn auf andere? Es bedeutet, dass zum einen das Empfinden von Zorn auf andere Menschen im stoischen Bild zwar unangemessen ist, dass aber zum anderen das Handeln gegen die Taten eines solchen Menschen in keinster Weise unangemessen ist, da es im abstrakten Sinne darauf abzielt, die situative Vernunft des Kosmos wiederherzustellen. Wie dies im Detail aussehen kann, hängt dann natürlich von den Aspekten einer gegebenen Situation ab. Wichtig ist hierbei aber auch die Einsicht, dass dem Handeln gegen einen solchen anderen Menschen kein Erfolg beschieden sein muss und wir jederzeit mit der Möglichkeit eines Scheiterns rechnen müssen. Warum dies so ist? Ich denke, ein Argument könnte z. B. sein, dass wir bei der Planung unserer Handlungen nicht weit genug in unserer gedanklichen Analyse gedacht haben und somit wichtige situative Aspekte des Kosmos außer Acht gelassen haben. Als letzten Gedanken möchte ich in diese Diskussion auch noch den Aspekt einbringen, dass wir im stoischen Bild auf Grund der Verbundenheit mit dem Kosmos auch mit unseren Mitmenschen tief verbunden sind. Dieser Gedanke zeigt sich z. B. in dem stoischen Konzept der Kreise des Hierokles. Hierokles, ein Stoiker aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, formulierte dieses Konzept in der Form, dass er sagte, dass wir als Menschen uns unser Dasein in der Mitte konzentrischer Kreise denken müssen. Im Zentrum des ersten Kreises stehen wir dabei selbst, mit unserer Psyche, unserer Seele und unserem Körper. Im nächsten Kreis sind wir von unseren Kindern und unserer Partnerin umgeben. Danach folgt der Kreis der engeren Familie, auf welche ein Kreis mit unseren Nachbarn, unseren Mitbürgen bis hin zu unseren Landsleuten folgt. Danach kommen dann noch Kreise, welche die Menschen anderer Kontinente, anderer Kulturen beinhalten. Dies geht so weit, bis alle Menschen in einem Kreis beinhaltet wären, dies ist der Kreis der Kosmopolis der Stoiker, der gedachten Gemeinschaft aller Menschen. Um diesen Kreis finden wir dann noch als Einbettung der Kosmopolis den Kosmos als Ganzes. Hierokles formulierte in diesem Bild jetzt zum einen die Einsicht, dass wir natürlich den inneren Kreisen näherstehen und entsprechend auch unsere Handlungen verstärkt auf die Menschen in diesen Kreisen richten sollen. Er formulierte dann aber auch die Anforderung, dass wir auch die weiter außen liegenden Kreise in den Blick nehmen und versuchen sollten, die Menschen in diesen Kreisen mehr und mehr so zu behandeln, wie Menschen in unseren inneren Kreisen. Dieser Prozess der inneren Weitung unseres Kreises der empfundenen Verbundenheit spiegelt dabei den Prozess der inneren Annahme der Grundeinsicht wider, dass wir mit dem gesamten Kosmos verbunden sind. Die Stoiker gehen hier sogar noch einen Schritt weiter, da sie diesen Prozess der inneren Aneignung von Welt, in der stoischen Philosophie „Oikeiosis“ genannt, als Erweiterung der natürlichen Selbstliebe des Menschen ansehen. In diesem Sinne führt die Weitung unserer Selbstliebe im Prozess der „Oikeiosis“ im Ergebnis zu Verwandlung dieser auf mich selbst bezogenen Liebe zu einer Art Weltliebe. Ein schon fast christlich anmutender Gedanke. Zorn gegenüber anderen Menschen behindert uns hierbei aber natürlich maßgeblich, so dass wir auch aus dieser Perspektive den Zorn als hinderlich ansehen müssen.

Die Lust und der Schmerz: Diese beiden sehr körperlichen Emotionen gehören im Denken der Stoiker zu den sogenannten Leidenschaften, welche bei den Stoikern tatsächlich im Wortsinn interpretiert werden, nämlich als die Emotionen, welche „Leiden schaffen“. Warum zählt Marc Aurel diese Emotionen jetzt aber zu den „Fehltritten der Seele bzw. Psyche“ und sagt sogar, dass sich die Seele selbst misshandelt, wenn sie sich diesen Emotionen hingibt? Gehen wir wieder von seinem grundsätzlichen Gedanken aus, dass die Absonderung der Seele vom Kosmos als Ursache der aufgezählten Fehltritte zu betrachten ist, so müssten wir an dieser Stelle die Frage klären, inwiefern auch die Lust und der Schmerz als eine solche Absonderung zu verstehen sind und daher so negativ zu bewerten sind, wie Marc Aurel dies in der obigen Passage tut. Die stoische Philosophie liefert uns zur Beantwortung dieser Frage einen Ansatz in Form ihrer Theorie des natürlichen Wertes aller Dinge. Diese Theorie besagt, dass jedes äußere Ding im Kosmos im moralischen Sinn kein „Gut“ ist, da das einzige „Gute“ aus Sicht der Stoiker die Tugend ist. Dinge des Alltags wie z. B. Essen, Besitz aber auch körperliche Zustände wie Gesundheit oder Schönheit gelten den Stoikern als moralisch neutral zu bewertende Dinge, in der stoischen Philosophie „Indifferenzien“ genannt. Der Ausdruck Indifferenz spiegelt dabei die stoische Vorstellung wider, dass diese Dinge eben moralisch indifferent zu bewerten sind. Sie sind in der Vorstellung der Stoiker aber trotzdem nicht alle gleich zu behandeln, da jedes dieser äußeren Dinge in einer gegebenen Situation einen „Wert“ besitzt. Dieser Wert unterscheidet äußere Dinge voneinander und kann dabei aber auch situativ schwanken. Die Stoiker sprechen bei der Bewertung von äußeren Dingen daher je nach Wert des Dings von einer präferierten oder nicht präferierte Indifferenzie. Gesundheit und Schönheit sind dabei typischerweise präferierte Indifferenzien, Armut und Krankheit dagegen nicht präferierte Indifferenzien. Inwiefern hilft uns diese gedankliche Figur jetzt aber weiter im Hinblick auf die Bewertung von Lust und Schmerz? Die stoische Antwort wäre die folgende. Lust ist eine Emotion, welche an das Vorhandensein präferierter Indifferenzien gebunden ist. Dies bedeutet, wenn ich eine schöne Sache sehe oder einen wohlschmeckenden Wein vor mir habe, ich wahrscheinlich die Lust empfinde, diese Sache mir anzueignen bzw. den Wein zu trinken. Dieser innere Antrieb ist hierbei zunächst aus Sicht der Stoa noch nicht verwerflich, solange das Folgen dieses Antriebs mich nicht dazu führt, dass ich im stoischen Sinne untugendhaft handle. Dies würde ich nämlich dann tun, wenn meine innere Lust eine Wertwahrnehmung des Dings vor mir widerspiegeln würde, welche den natürlichen Wert dieses Dings deutlich übersteigen würde. In der Sprache der Stoiker beginnt das Problem der Emotion Lust dann, wenn ihr eine sogenannte Werteillusion zu Grunde liegt, wir also auf Grund von fehlgeleiteten inneren Glaubenssätzen äußeren Dingen einen unangemessen hohen Wert beimessen. Der stoische Weise würde im Gegensatz hierzu in der Lage sein, den situativ bestimmten natürlichen Wert äußerer Dinge jederzeit erkennen und damit tugendhaft handeln zu können, was wiederum einem Handeln im Einklang mit der Natur entspricht. Der Verfall der Seele an die Lust spiegelt in dieser Interpretation also deshalb eine Absonderung der Seele vom Kosmos wider, da eine der Lust verfallene Seele den natürlichen Wert der Dinge im Kosmos nicht mehr erkennen kann und ihm damit fremd geworden ist. Der gleiche Gedankengang ließe sich jetzt auch auf die Emotion des Schmerzes anwenden, wobei zwischen einem natürlichen Schmerzempfinden und einem unnatürlichen Schmerzempfinden zu unterscheiden wäre. Letzteres würde mein Handeln dahingehend beeinträchtigen, dass ich auf Grund einer Überbetonung der Empfindung des Schmerzes nicht mehr in der Lage wäre, tugendhaft und damit im Einklang mit der Natur zu handeln. Ich bin mir an dieser Stelle bewusst, dass Schmerz eine fürchterliche Empfindung sein kann. Die Stoiker scheinen nach meinem Verständnis den Schmerz auch nicht klein reden zu wollen, sie wollen uns aber darauf hinweisen, dass eine Seele, welche dem Schmerz verfallen ist, ihre Tugendhaftigkeit verliert und damit auch nicht mehr im Einklang mit der Natur leben würde, weil sie dem Schmerz oder auch der Schmerzvermeidung einen zu hohen Stellenwert gibt. Diese kritische Haltung der Stoiker unseren Emotionen gegenüber hat ihnen heutzutage bei vielen Menschen den Ruf eingetragen, dass die Stoiker alle Emotionen ablehnen würden. Dies ist aber nicht richtig. Die Stoiker lehnen nur eine Überbetonung der Emotionen in Form von unkontrollierbaren Leidenschaften ab, da diese uns daran hindern, ein tugendhaftes Leben und damit auch glückseliges Leben zu führen. Sie erinnern uns gleichzeitig auch daran, dass das Spiel mit den Emotionen einem Spiel mit dem Feuer gleicht und wir uns daher mit ihnen und damit unseren inneren Verhältnissen auskennen sollten, wenn wir uns auf dieses Spiel mit dem Feuer einlassen wollen.

Lüge und Täuschung: Diese beiden Handlungen lassen sich nach den bisherigen Überlegungen recht leicht als Absonderungen der Seele vom Kosmos verstehen, da es ja als Kern der Lüge und der Täuschung darum geht, einen Zustand des Kosmos in einer gegebenen Situation vorzutäuschen, welcher in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Die Seele, die dies tut, tritt damit aus dem Fluss der natürlichen Dinge heraus und sondert sich mit ihrer eigenen vorgegebenen Darstellung einer Situation ab. Hintergrund einer solchen Absonderung kann dabei z. B. wieder eine Werteillusion sein, wie wir sie bereits bei der Lust und dem Schmerz besprochen haben und welche es mir als angemessen erscheinen lässt, eine falsche Aussage bewusst zu tätigen, damit ich hierdurch einen Vorteil, im Sinne des Erwerbs eines Dinges mit für mich hohem Wert, erlange.

Ziellosigkeit: Wenden wir uns zum Schluss aber der Ziellosigkeit und damit der Frage zu, warum Ziellosigkeit einer Absonderung der Seele vom Kosmos entspricht. Hierzu muss man sich zunächst noch einmal in Erinnerung rufen, dass die Stoiker die Ansicht vertraten, dass der Kosmos als Ganzes ein lebendiges Wesen ist, welches Vernunft besitzt. Die Abläufe im Kosmos sind daher, nach Ansicht der Stoiker, ein Ausdruck dieser Allvernunft. Wenn ein Mensch jetzt ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur als oberstes Ziel verfolgt, so bedeutet dies, dass alle Handlungen dieses Menschen im Einklang mit diesem Ziel und nachfolgend mit den vernünftigen Prozessen des Kosmos stehen müssen. Ein Handeln, welches kein Ziel verfolgt, wäre in dieser Sichtweise damit der Gefahr ausgesetzt, dass es nicht in Übereinstimmung mit der Allvernunft steht und damit in den Worten Marc Aurels „der Vernunft und der Satzung des „Ältesten Staates“ (sprich des Kosmos) nicht folgt und damit auch kein tugendhaftes Handeln darstellt. Die Stoiker unterscheiden hierbei auch zufällig im Einklang mit der Natur stehendes von begründet und bewusst im Einklang mit der Natur stehendes Handeln, wobei nur das letztere von den Stoikern als tugendhaftes Handeln verstanden wird. Diese Unterscheidung zeigt noch einmal deutlich, dass die Stoiker davon überzeugt waren, dass ein tugendhaftes Handeln sich nicht in erster Linie durch sein äußerliches Tun definiert, sondern dieses auch Ausdruck eines inneren Zustandes sein muss, damit aus einer Tat auch wirklich eine tugendhafte Tat wird. Man könnte es auch so ausdrücken, nur wenn der innere Zustand der Seele sich nicht von der Allvernunft des Kosmos absondert, kann ein aus dieser Seele entspringendes Handeln tatsächlich tugendhaftes Handeln sein.

Mit diesem Gedanken möchte ich die Interpretation der Passage von Marc Aurel abschließen. Ich hoffe, dass diese Reflexion noch einmal gezeigt hat, dass die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel nicht nur in einer wunderschönen Sprache geschrieben wurden, sondern dass diese Sprache auch eine große philosophische Tiefe besitzt.

Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“

Shownotes:

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (Kröners Verlag):

https://www.kroener-verlag.de/details/product/selbstbetrachtungen/

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen – Griechisch -Deutsch  (Tusculum Verlag)

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783050092416/html?lang=de