Heute möchte ich einen Blick auf eine Passage in Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ werfen. Es handelt sich um die Passage 6 im vierten Buch. Dort sagt Marc Aurel Folgendes:

„Von Menschen eines bestimmten Charakters müssen notwendigerweise ihrer Natur entsprechende Handlungen begangen werden. Wer das nicht will, der will, daß die Feige keinen Saft hat.“

Marc Aurel spricht in dieser Textpassage offensichtlich die Bedeutung unseres Charakters für unser Leben an. Ein Thema, welches in der Stoa einen großen Stellenwert besitzt. In seinem Ausspruch weist Marc Aurel darauf hin, dass unser Handeln notwendigerweise unserem Charakter folgt. Wir also, wenn wir unser Leben anders führen wollen, unseren Charakter ändern bzw. mit diesem anders umgehen müssen.

Die Stoa steht mit diesem Gedanken nicht allein da, da schon Heraklit (520 – 460 v. Chr.) in seinem 102. Fragment folgenden Satz formulierte:

„Des Menschen Charakter ist sein Schicksal.“.

Wo bei Marc Aurel unser Charakter die Art und Weise unseres Handelns und damit auch unseres Lebens bestimmt, da bestimmt bei Heraklit unser Charakter folgerichtig unser Schicksal. Ähnlich sah es auch Sokrates (469 – 399 v. Chr.), der in seiner Philosophie die Kenntnis unseres Selbst als Schlüssel für ein gelingendes Leben ansah. Betrachten wir diese Aussagen, so ist es verblüffend zu sehen, dass zwischen den Formulierungen dieser Kerneinsicht durch Heraklit und Sokrates einerseits und Marc Aurel andererseits gut 700 Jahre liegen. Eine sehr lange Zeitspanne für die Gültigkeit eines Gedankens. Selbst heute erscheint dieser Gedanke nicht oudated.

Doch was meinen wir genau, wenn wir von unserem Charakter sprechen? Hier lassen sich zwei Facetten dieses Begriffs unterscheiden. Dies sind zum einen die Charaktermerkmale, welche längerfristig stabile Merkmale unserer Persönlichkeit bezeichnen. In der Psychologie werden diese gerne mithilfe von Persönlichkeitsverfahren erfasst, wie z. B. dem „Big Five“-Verfahren, in dem Persönlichkeiten in fünf Dimensionen unterschieden werden. Diese sind im Fall der „Big-Five“:

  • Extraversion,
  • Offenheit für neue Erfahrungen,
  • Verträglichkeit,
  • Gewissenhaftigkeit,
  • Neurotizismus (emotionale Empfindlichkeit).

In diesen Dimensionen werden einzelne Personen jeweils in einem Kontinuum zwischen zwei Extremen in ihrer Persönlichkeit eingeschätzt. So wird die Dimension „Extraversion“ zwischen den Polen „Intraversion“ und „Extraversion“ eingeschätzt. Es gibt eine Vielzahl derartiger Verfahren, welche in vielen Bereichen Anwendung finden, wenn es darum geht, etwas über das zu erwartende Handeln einzelner Personen zu lernen. Bereits die Stoa kannte diese Seite unseres Charakters und beschrieb ihn als einen wichtigen Teil einer Person. Den klarsten Hinweis auf diesen Aspekt einer Person finden wir in dem „Vier-Personen-Modell“ von Panaitios von Rhodos über welches Marcus Tulius Cicero in seinem Buch „De Officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln“ berichtet. In diesem Modell werden folgende Aspekte („Personen“) eines Menschen unterschieden:

  • Die Aspekte in unserem Leben, welche uns durch externe Faktoren zugeschrieben werden (wir sind z. B. das Kind eines Königs oder eines Bettlers, wir sind Bruder, Schwester oder Einzelkind etc.).
  • Die Aspekte, die wir uns selbst auswählen, wie z. B. ob wir heiraten, welche Freundschaften wir pflegen oder unsere Berufswahl.
  • Der Aspekt, dass wir als Menschen an der kosmischen Vernunft Anteil haben.
  • Zuletzt aber eben auch der Aspekt, dass wir bestimmte persönliche Eigenschaften und Prägungen besitzen, also unser Charakter, aber auch unsere Talente und andere körperliche Eigenschaften.

Nach Panaitios von Rhodos sind diese Aspekte unserer Person zu berücksichtigen, wenn wir eine gute Entscheidung in unserem Leben treffen wollen. Wer entscheidet aber in uns darüber, ob wir diese Aspekte berücksichtigen oder nicht? D. h. wo ist in uns die Instanz, die dafür sorgt, dass wir diesen Aspekten unserer Person in unserem Leben gebührend Aufmerksamkeit geben. Die Lösung dieser Aufgabe übernimmt im Denken der Stoiker ein weiterer Aspekt unseres Charakters, nämlich unser moralischer Charakter. Die Stoiker nannten diese Instanz in uns „prohairesis“ und sie steht im Gedankengebäude der Stoiker für die Fähigkeit zu freier und vernünftiger Selbstbestimmung. Nur unsere „prohairesis“ kann uns in diesem Bild ein gelingendes Leben bescheren oder „zuteilen“. Letztere Tätigkeit geht im Griechischen auf das Wort „daiomai“ zurück. Der Begriff „daiomai“ beschrieb hierbei den Prozess der Zuteilung des Schicksals an Menschen durch die Daimonen, welche als Zwischenwesen zwischen den Göttern und den Menschen agierten. In diesem Bild ist es auch sehr verständlich, dass Sokrates in seiner Verteidigungsrede davon spricht, dass er einen inneren „Daimon“ besäße, welcher ihm in schwierigen Situationen geraten habe, das Richtige zu tun. Es verwundert dementsprechend auch nicht, dass die Stoiker den Zustand der Glückseligkeit als „Eudaimonia“ beschreiben, was man auch als „gut begleitet sein im Sinne von „sich selbst ein gutes Schicksal zuteilend“ verstehen könnte, da die Vorsilbe „Eu“ im Griechischen „gut“ bedeutet.

Fassen wir diese Überlegungen zusammen, so sehen wir, dass im Bild der Stoiker, unser moralischer Charakter, bezeichnet als „prohairesis“, darüber entscheidet, welches Leben wir führen. Der Weg der Stoa besteht in dieser Hinsicht also vor allem darin, dass wir unsere „prohairesis“ so entwickeln, dass wir in der Lage sind, mit ihrer Hilfe ein gelingendes Leben zu führen. Die Stoa und ihre Praxis zielen daher aus meiner Sicht vorrangig darauf ab, diese charakterliche Entwicklung zu befördern.

Dies kommt auch in dem folgenden Zitat von Epiktet zum Ausdruck (Epiktet, Gespräche, 1.4.18):

„Wer macht also Fortschritte? Derjenige, der sich gänzlich von den Außendingen abwendet und sich nur darum bemüht, seinen freien Willen („prohairesis“) so auszugestalten und zu vervollkommnen, dass er mit der Natur völlig übereinstimmt, erhaben, frei, keinem Widerstand und Hindernissen unterworfen, verlässlich und sittsam ist.“.

Epiktet formuliert hier klar den Gedanken, dass moralischer Fortschritt nur in der Arbeit an unserer inneren „prohairesis“ besteht, wobei in der obigen Übersetzung „prohairesis“ nur als unser freier Wille übersetzt wird, was im Hinblick auf unsere Diskussion etwas zu eng interpretiert scheint. Die besondere Bedeutung unserer „prohairesis“ wird weiterhin auch aus folgendem Zitat von Epiktet aus seinen Gesprächen sehr deutlich (Epiktet, Gespräche, 4.12.7):

„“Worauf soll ich denn achtgeben?“ ……dass kein Mensch Herr über den Willen („prohairesis“) eines anderen ist und dass allein im Willen das Gute und Schlechte liegt.“

In unserer „prohairesis“ liegt aus Sicht von Epiktet also nicht nur der Schlüssel zum Guten und Schlechten, sondern auch der Kern unserer inneren Freiheit, da niemand unsere „prohairesis“ von außen bestimmen kann.

In meinem Buch „Der Weg der Stoa in der Führung“ habe ich von diesen Gedanken ausgehend ein Programm beschrieben, welches es uns ermöglicht, die Charakterbildung im Sinne der Stoa zu befördern. Die Kernelemente dieses Programms sind dabei:

  1. Die Etablierung des Gedankens der stoischen Achtsamkeit in unserer „prohairesis“,
  2. Die Reflexion des stoischen Freiheitsbegriffs als Leitmetapher für den Umgang unserer „prohairesis“ mit uns selbst und unserer Umwelt,
  3. Die Nutzung von stoischen Rollenvorbildern zur Prägung unserer „prohairesis“,
  4. Die Integration des stoischen Entwicklungsgedankens für unser Ich und unsere „prohairesis“,
  5. Die Integration der Disziplinen des Begehrens, des Handelns und der Zustimmung in die Praxis unserer „prohairesis“
  6. Die Nutzung des Gedankens der stoischen Kosmopolis zur Habituierung unserer „prohairesis“.

Mithilfe dieses Programms beschreiben uns die Stoiker einen Weg hin zu einer tugendhaften „prohairesis“, welche es uns erlaubt ein gelingendes Leben zu führen, in dem wir uns selbst gut begleiten und mit Seelenruhe und Glückseligkeit beschenkt werden, sodass unser Charakter uns ein gutes Schicksal zuteilt.

 Mit diesem Gedanken sage ich für heute: „Bis bald, soweit das Schicksal es zulassen wird.“

 

Hier geht es zur Episode 21…

 

Shownotes:

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen (Kröners Verlag):

https://www.kroener-verlag.de/details/product/selbstbetrachtungen/

Die Vorsokratiker, Reclam Bibliothek, 2011.

https://www.reclam.de/detail/978-3-15-010730-0/Die_Vorsokratiker

Marcus Tulis Cicero, De Officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Reclam, 1986

https://www.reclam.de/detail/978-3-15-001889-7/Cicero__Marcus_Tullius/De_officiis___Vom_pflichtgemaessen_Handeln

Epiktet, Gespräche, Fragmente, Handbuch, Moderne Gesamtausgabe von Tino Deckert (Hrsg.), tredition GmbH, 2021.

https://shop.tredition.com/booktitle/Gespr%3Fche_Fragmente_Handbuch/W-1_162529

Website des Wegs der Stoa:

www.weg-der-stoa.de

Instagram des Wegs der Stoa:

https://www.instagram.com/wegderstoa/profilecard/?igsh=am11ZWFsMW5zc2sx

Meetup-Events:

Buchvorstellung: „Der Weg der Stoa in der Führung“:

https://meetu.ps/e/NDt9v/N0zhF/i

Das stoische Programm für ein gelingendes Leben – Theorie und Praxis: https://meetu.ps/e/NDtj9/N0zhF/i